Alke Wierth schaut nach Wohnungen und bekommt 450 Angebote: Wohnungsnot? Welche Wohnungsnot?
Liebe Leserinnen und Leser: Jetzt mal etwas ganz anderes! Oder sind Sie gerade gar nicht bereit für andere Themen als Corona? Dann verrate ich Ihnen jetzt schon, dass ich am Ende dieses Textes einen Zusammenhang herstellen werde – vielleicht etwas an den Haaren herbeigezogen, aber das können Sie dann ja selbst beurteilen.
Ich schaue neuerdings nach Wohnungen. Nicht dringend, ich habe ja glücklicherweise eine, die ich mir sogar derzeit noch leisten kann. Aber da absehbar ist, dass mein Kind bald auf eigenen Füßen stehen und mit diesen unsere WG dann flugs verlassen wird, gucke ich ab und an, was so auf dem Markt ist. Ich will mich verkleinern.
Also ignoriere ich alle Warnungen von Freunden und Kollegen, die da übereinstimmend lauten „Wohnungsnot!“, und begebe mich auf das Internetportal, das mir das größte Angebot für Berlin verspricht. Und siehe da: Kaum gebe ich meine Wünsche ein, offeriert mir das Portal knapp 450 Wohnungen. Ha: Wohnungsnot? Welche Wohnungsnot?
Gleich das erste Angebot ist toll: nah an meinem Arbeitsplatz, 2 Zimmer! Äh: 186 Quadratmeter? Warm 6.450 Euro?? Die folgenden Angebote sind ähnlich gelagert: Wohnungen von 68 bis 220 Quadratmeter, Kaltmieten nicht unter 2.000 Euro.
Ich versuche es mit einer Quadratmeterzahl, 50 reichen mir doch, was brauche ich 68! Nun bleiben immerhin noch 82 Angebote übrig. Los geht’s mit einem 48-qm-Appartement in Pankow, kalt 1.800, warm 2.100 Euro. Oder was mit 46 Quadratmetern, ebenfalls in Pankow, 1.282 Euro kalt. (Alles unmöblierte Angebote.)
Also gebe ich auch noch eine Miethöhe ein: Bei 500 Euro Warmmiete bleiben noch 11 Angebote. Und gleich das erste in dem Kiez, wo ich am liebsten wohnen möchte! 2 Zimmer, 55 Quadratmeter, 329 Euro kalt. Super! Doch Moment: Mit Nebenkosten von 185 Euro macht das für den Vermieter 784 Euro warm? Zu teuer, zu unseriös. Also weiter …
Doch der Rest der Wohnungen befindet sich entweder unerreichbar am Stadtrand oder in miserablem Zustand. Am Ende bleibt ein Angebot im südlichen Neukölln: eineinhalb Zimmer in einem dürftig renovierten Neubau für 489 Euro.
Dennoch: Von WOHNUNGsnot kann in Berlin wohl keine Rede sein. Gebe ich drei, vier oder fünf Zimmer in die Suchfunktion ein, zeigt mir das Portal jeweils mehrere hundert Wohnungen, die sofort oder bald zu beziehen wären. Man muss sie sich eben nur leisten können: Mitte, 5 Zimmer, unmöbliert, kalt 12.417 Euro: Macht 30 Euro für jeden einzelnen der 413 Quadratmeter.
Aber immerhin: An WohnRAUM mangelt es offensichtlich nicht. Man muss wohl statt von Wohnungsnot eher von Mieternot sprechen: Es mangelt an denen, die die angebotenen Wohnungen bezahlen können. Das verfügbare Einkommen in Berlin (nach Abzug von Sozialabgaben und Steuern) liegt bei monatlich etwa 1.600 Euro. Das reicht bei 30 Euro kalt für 53 Quadratmeter – wenn man nicht heizt, nicht isst und sich nicht bekleidet.
Und nun der versprochene Corona-Schwenk: Vielleicht fällt es ja jetzt mal mehr von denen, die das ändern könnten, endlich auf, wie asozial es ist, zu erlauben, dass Menschen oft mehr als die Hälfte ihrer knappen Einkommen für Miete ausgeben müssen. Und sie so in eine Armut zu zwingen, die sie und ihre Familien in Zeiten wie dieser fürchten lassen muss, auch noch das eigene Zuhause zu verlieren.
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