Thüringer CDU-Chef über neue Allianzen: „Die Bonner Republik ist zu Ende“

Die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten war falsch, sagt Mario Voigt. Dennoch sei der Stabilitätsmechanismus keine Tolerierung von Rot-Rot-Grün.

Bodo Ramelow und Mario Voigt desinfizieren sich die Hände.

Mit ihm muss Mario Voigt jetzt zusammenarbeiten: Ministerpräsident Ramelow, hier bei der Handhygiene Foto: Mario Gentzel/imago

taz: Herr Voigt, machen Sie rückblickend drei Kreuze, dass Thüringen seit dem 4. März einen neuen Ministerpräsidenten hat? Fast wären Sie ohne funktionstüchtige Regierung in die Corona-Krise gerutscht.

Mario Voigt: Ich glaube, jeder Thüringer Bürger ist froh darüber.

Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der Ramelow-Regierung?

Wir sind alle Getriebene dieser Pandemie. Die Bundesregierung und die Kanzlerin agieren besonnen. Und die Landesregierung fährt einen für sie bestmöglichen Kurs, um das schnellstens in Thüringen umzusetzen.

Können Sie die Landesregierung überhaupt richtig kritisieren? Sie sind ja „konstruktive Opposition.“

In Zeiten einer solchen Pandemie geht es weniger um Parteipolitik, sondern darum, das Leben der Bürger zu schützen und Wirtschaft und Beschäftigung zu sichern. Wir haben kritisiert, dass es im Bereich der Wirtschaftshilfen nicht schnell genug geht, und einen Vorschlag für ein Maßnahmenpaket gemacht, auf den die Regierung zum Teil eingegangen ist. Das zeigt, dass die Rolle als konstruktive Opposition funktionieren kann.

43, Politikwissenschaftler, ist seit Anfang März Fraktionschef der CDU im Thüringer Landtag. Er trat mit 17 in die CDU ein, war Bundesvorsitzender des RCDS, Landeschef der Jungen Union und unter Ex-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht Generalsekretär der Thüringer CDU. Seit 2007 sitzt er im Landtag.

Sie haben einen sogenannten Stabilitätsmechanismus mit Rot-Rot-Grün beschlossen, der dazu führt, dass Sie für alle Anträge Kompromisse suchen müssen. De facto eine Tolerierung.

Nein, es ist keine Tolerierung. Es gibt noch immer eine Trennung: zwischen uns als Opposition und der Regierung. Eine Tolerierung lebt von sehr konkreten Absprachen. Wir haben den Stabilitätsmechanismus, der ein parlamentarisches Vorgehen und einige wichtige Punkte definiert, aber diese nicht im Detail geregelt hat.

Das sind rhetorische Windungen, damit er zum Beschluss der Bundes-CDU passt, der eine Zusammenarbeit mit Linkspartei und AfD untersagt. Tolerierung meint die regelmäßige Unterstützung einer Minderheitsregierung durch eine Fraktion, die nicht selbst an dieser beteiligt ist. Genau das machen Sie.

Genau diese regelmäßige Unterstützung gewähren wir ausdrücklich nicht. Wenn Sie an das Magdeburger Modell denken...

Also die von der SPD geführte und der PDS tolerierte Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt in den 1990ern.

Genau, da wurde alles im Detail abgesprochen. Das haben wir nicht gemacht. Wir haben uns auf einen Mindestbestand von Themen geeinigt: darunter der Haushalt, die Reform des kommunalen Finanzausgleichs, der Thüringer Schulfrieden. Aber die Koalition besteht aus Rot-Rot-Grün, und jeder behält seine eigenen Rolle. Alle tragen ihre Themen vor, und dann versuchen wir, einen Kompromiss zu finden. Ist das nicht möglich, bleibt es eben so.

Wichtigstes Projekt soll die Verabschiedung des Haushalts sein. Danach endet der Mechanismus, und 2021 soll gewählt werden. Ist der Zeitplan angesichts von Corona zu halten?

Derzeit ist alles im Fluss. Niemand weiß genau, was morgen sein wird. Aber klar ist: Wir stehen vor einer riesigen wirtschaftlichen Herausforderung. Deshalb werden wir alles dafür tun, dass wir zu einem vernünftigen Haushalt kommen.

Wie macht man überhaupt Politik in Zeiten von Corona?

Wir haben natürlich alle Schutzmaßnahmen ergriffen. Die gesamte Fraktionsgeschäftstelle ist digitalisiert worden, wir arbeiten jetzt alle im Homeoffice. Ich komme gerade aus einem Videocall mit einem Referenten, Bürgersprechstunden machen wir digital und am Telefon.

Sie haben zwei Söhne, die betreut werden müssen. Wie machen Sie das?

Ja, die beiden sind sechs und acht, da hat man noch gut zu tun. Meine Frau ist Ärztin, aber ich kann meine Arbeit in weiten Teilen zu Hause machen. Meine Söhne haben heute Morgen beide Schulaufgaben bekommen, die arbeiten sie nebenan gerade fleißig ab. Das hoffe ich zumindest.

Herr Voigt, die Thüringer CDU ist in den vergangenen Monaten durch eine bewegte Zeit gegangen. Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?

Ich glaube, dass man mit gesundem Menschenverstand eine klare Lageeinschätzung machen muss. Es war ein Fehler, dass wir nach der Landtagswahl – bei der wir erstmals nicht stärkste Kraft, sondern Dritter geworden sind – nicht gleich klar gesagt haben, dass wir Opposition sind. Und mit dem Blinken mal links, mal rechts haben wir für Verunsicherung gesorgt, die uns Vertrauen gekostet hat.

Für all das ist vor allem ihr Vorgänger Mike Mohring verantwortlich. Aber nehmen wir mal die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten: Auch Sie haben im dritten Wahlgang wohl für ihn gestimmt, gemeinsam mit der AfD. Obwohl Sie wussten, was passieren kann. Ein Fehler?

Rückblickend war das ein Fehler, auch wenn es natürlich eigentlich nicht verwerflich ist, wenn ein CDU-Mann für einen FDP-Politiker stimmt. Aber dass eine Partei, wie die AfD das getan hat, einen Kandidaten aufstellt und diesem gar keine Stimme gibt, hat es in unserer Parlamentsgeschichte noch nicht gegeben. Das ist von einem Stichwortgeber Höckes selbst als destruktiv gefeiert worden. Deutlicher kann man die Verachtung der parlamentarischen Demokratie kaum ausdrücken.

Wenig später dann hat Ihre Fraktion durch Enthaltungen dafür gesorgt, dass der Linke Bodo Ramelow verfassungssicher zum Ministerpräsident gewählt worden ist. Haben Sie da gedacht: Warum haben wir das nicht schon früher gemacht?

Zuerst habe ich mich gefreut, dass wir uns geschlossen enthalten haben und nicht ja zu einem linken Ministerpräsident gesagt haben. Außerdem haben wir der AfD so die Möglichkeit genommen, rechtlich gegen die Wahl vorzugehen.

Das beantwortet aber die Frage nicht.

Aber es macht auch keinen Sinn, immer in den Rückspiegel zu blicken. Wie alle Fraktionen mussten auch wir die Situation nach dem 5. Februar neu bewerten und haben aus meiner Sicht eine vernünftige Entscheidung getroffen.

Sie haben damit den Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundespartei aufgeweicht – wer hat Ihnen das übler genommen: die Bundesspitze, ihr Fraktionskollege Michael Heym, der ja lieber mit der AfD reden wollte, oder ihre Basis im Saale-Holzland-Kreis?

Ich glaube, keiner davon. Alle haben eingesehen, dass das eine Situation war, die es bislang in Deutschland noch nicht gegeben hat, und auch das Chaos und den Stillstand, die damit einhergingen. Die CDU hat versucht, einen Weg dort heraus zu finden. Die Reaktionen darauf sind überwiegend positiv.

Sollte sich die Bundesebene künftig aus solchen Entscheidungen raushalten?

Sagen wir mal, nicht jede Einlassung war hilfreich. Wir in Thüringen entscheiden schon selbst über unseren Gang der Dinge. Die Länder bilden den Bund. Daran darf gelegentlich erinnert werden.

Sollte der Unvereinbarkeitsbeschluss grundsätzlich überdacht werden?

Nein, er positioniert uns da, wo wir hingehören: in der Mitte. Am Ende hat er auch für die Thüringer Situation getaugt.

Damit besteht die Gefahr, dass Sie bei den Neuwahlen erneut vor einem Drama stehen – und die CDU in anderen ostdeutschen Ländern wie Sachsen-Anhalt auch.

Die Wahlen sind noch eine ganze Weile hin, aber ja, vielleicht haben wir erneut ein solches Ergebnis. Aber nur weil die Lage kompliziert ist, können wir doch keine inneren Überzeugungen über Bord werfen.

Herr Voigt, die Thüringer CDU ist seit Langem zerstritten, Sie sind seit vielen Jahren einer der Gegenspieler des ehemaligen Partei- und Fraktionschefs Mike Mohring. Jetzt sollen Sie die Fraktion einen. Wie soll das gehen?

Für mich ist Politik ein Mannschaftsspiel, und jeder soll Teil dieser Mannschaft sein. Mein Ziel ist, einzubinden, Dinge gemeinsam zu beraten und dann mit diesem Kurs nach vorne zu gehen. Dass die CDU am 4. März geschlossen abgestimmt hat, ist ein Zeichen, dass das funktionieren kann.

Wie wollen Sie die einbinden, die jede Kooperation mit der Linken für Teufelszeug halten und mehr Gemeinsamkeiten mit der AfD sehen?

Das geht nur, indem man klar Position bezieht. Und meine Position ist: Die Höcke-AfD ist der politische Hauptgegner der CDU, die anderen sind Konkurrenten – mit denen wir im harten politischen Wettbewerb um den richtigen Weg für Thüringen und Deutschland stehen. Im Übrigen glaube ich, dass diese Extremisten jetzt in der Krise massiv entzaubert werden, weil sie zur Lösung nichts beizutragen haben.

Die Thüringer CDU braucht auch einen neuen Landeschef, Sie unterstützen Christian Hirte. Der musste als Ostbauftragter der Bundesregierung auch deshalb abtreten, weil er die Kemmerich-Wahl mit Stimmen der AfD euphorisch begrüßt hat. Warum soll er Landeschef werden?

Christian Hirte wird in der gesamten Landespartei geschätzt, ist integer, klug und verbindet gleichzeitig menschlich, er ist ein Mannschaftsspieler. Er ist genau der Richtige, um diese Partei zusammenzuführen und einen Neustart zu wagen.

Hirte gilt als einer, der auch mal nach rechts blinkt. Wie passt das zu Ihrer klaren Abgrenzung zur AfD?

Wir haben da einen relativ ähnlichen Politikansatz, der lautet: Die CDU ist eine Partei der Mitte. Da mache ich mir keine Sorgen.

Soll die Aufgabenteilung sein: Sie stehen für die klare Kante gegen die AfD, Hirte ist für die andere Seite zuständig?

Ich will nicht missverstanden werden. Ich habe auch einen klaren Kurs gegenüber der Linken. Die CDU steht in der Mitte. Und so tickt auch Christian Hirte. Aber natürlich hat jeder seinen individuellen Stil, diese Vielfalt macht die CDU ja auch stark.

Was lässt sich aus Thüringen auf andere Länder übertragen?

Die Erkenntnis, dass die Bonner Republik beendet ist. Deutschland ist in seinen politischen Konstellationen vielfältiger geworden, und der Osten ist ein Brennglas für all die verschiedenen politischen Konstellationen, die entstehen können. Und da sollte man nicht von oben herab agieren, sondern immer darauf achten, dass im Föderalismus die Bundesländer versuchen, die beste Lösung zu finden.

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