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Kritik bringt Fortschritt

Zwischen März und April 1920 hielt Rudolf Steiner seinen ersten Ärztekurs über anthroposophische Medizin in Dornach

Von Susanne Kretschmann

In diesem Jahr feiert der ganzheitliche Ansatz, der die Schulmedizin zum Beispiel durch komplementär-integrative Methoden wie Kunst- und Eurythmie-Therapie, Heilpädagogik, Biografiearbeit, Sozial- und Psychotherapie, Ernährungsberatung und anthroposophische Medikamente bereichert, sein 100-jähriges Jubiläum. Was diese Zeitrechnung allerdings nicht berücksichtigt: Während des Nationalsozialismus war die anthroposophische Medizin verboten. Umso erstaunlicher sind ihre Errungenschaften.

Jan Vagedes, leitender Arzt der Pädiatrie in der Filderklinik in Baden-Württemberg: „Nach der Zeit des Nationalsozialismus ist es gelungen, in wenigen Jahrzehnten eine moderne Medizin zu entwickeln, die im besten Sinne des Wortes integrativ ist, denn sie stellt eine Verbindung zwischen der sogenannten Schul- und der komplementären Medizin her, sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich.“ Der promovierte Kinderarzt und Neonatologe ist dankbar für die Errungenschaften und Entdeckungen der naturwissenschaftlichen Medizin: „Darüber hinaus vertieft und erweitert die Anthroposophische Medizin diagnostische und therapeutische Möglichkeiten sowohl bei akuten, vor allem aber auch bei chronischen Erkrankungen.“

In Deutschland ist die antroposophische Medizin vom Gesetzgeber anerkannt. Es gibt mehr als 2.000 anthroposophische Ärzte und 15 anthroposophisch orientierte Krankenhäuser, Rehakliniken oder Beleg­abteilungen, die bei Umfragen regelmäßig auf den ersten Plätzen landen. Weltweit wird die anthroposophische Medizin in über 40 Ländern praktiziert.Bereits Mitte Dezember 2018 trafen sich im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe Vertreter der World Health Organization (WHO), um ein Anerkennungsverfahren der anthroposophischen Medizin als ein Integratives Medizinsystem der WHO zu diskutieren. Seitdem wurde intensiv daran gearbeitet, die anthroposophischen Ausbildungscurricula mit den WHO-Anforderungen abzugleichen. Die Anerkennung könnte noch in diesem Jahr erfolgen.

Trotz der allgemeinen Wertschätzung bekommt die anthroposophische Medizin manchmal Gegenwind. „Mich schmerzt besonders die Unterstellung eines unzulässigen Weltbildes, das man nicht braucht, und fehlender Wissenschaftlichkeit, die sich nicht beweisen lässt, obwohl es viel Forschung gibt, die unfairerweise nicht benannt wird“, sagt Gabriela Stammer, geschäftsführende Vorständin der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland und seit 1998 niedergelassene, promovierte Frauenärztin. Einen wichtigen Forschungsbeitrag leisten unter anderem das Forschungsinstitut Havelhöhe (FIH), die Universität Witten-Herdecke, Forschungsabteilungen der Charité, der Universität Freiburg und Bern sowie das der Filderklinik angeschlossene „Academic Research in Complementary and Integrative Medicine“-Institut (ARCIM), dessen Gründer und wissenschaftlicher Leiter Jan Vagedes ist. „Akademische Forschung an Universitäten und sonstigen Forschungsinstituten ist ein wichtiger Bestandteil“, sagt er. „Ohne akademische Reflektion und die Bereitschaft zur Selbstkritik ist Fortschritt nicht möglich.“ Die aus der anthroposophischen Medizin heraus entwickelte Eurythmietherapie wird beispielsweise derzeit in einer multizentrischen Studie mit Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung bezüglich ihrer Wirkung zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen untersucht. Von den in solchen Studien gewonnenen Erkenntnissen profitieren die PatientInnen, die – ganz nach den Grundprinzipien der anthroposophischen Medizin – auf verschiedenen Ebenen in ihrem Kranksein angesprochen werden. „Zu diesem anderen therapeutischen Weg tragen eben auch die anthroposophisch erweiterte Pflege und Kunsttherapien unbedingt etwas bei und ermöglichen eine andere Gesundungsqualität“, erklärt Stammer. „Aus meiner Perspektive ist es von unendlicher Bedeutung für eine fortschrittliche Gesellschaft, die wir sein wollen, Pluralismus zu leben – in einer großen gegenseitigen Akzeptanz. Nur weil man etwas nicht nachvollziehen kann, muss man nicht in eine vernichtende Kritik gehen.“

„Wenn ich ehrlich bin, ärgert mich Kritik nicht, wenn sie berechtigt und nicht nur einseitig recherchiert ist. Das gibt der anthroposophischen Medizin die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln“, sagt Vagedes. „An­thro­posophische Ärztinnen und Ärzte kochen auch nur mit Wasser, waren und sind nicht fehlerfrei. Manche Ansätze aus der Vergangenheit mussten und müssen korrigiert werden, das gehört zur Weiterentwicklung dazu.“

Als Assistenzärztin in der Abteilung Innere Medizin in der schweizerischen Klinik Arlesheim probiert Helene von Bremen gerade den anthroposophischen Weg für sich aus. Sie wollte sowohl die Schulmedizin als auch deren Erweiterung, die anthroposophische Medizin, lernen. Bei jüngeren Menschen nimmt sie vor allem den Wunsch wahr, mit ihrem Leiden ernst genommen zu werden: „Außerdem habe ich das Gefühl, dass sich derzeit eine große Veränderung hinsichtlich eines ökologischen und nachhaltigen Lebensstils vollzieht.“ Obwohl Nachhaltigkeit wegen hoher Hygienestandards in der Medizin ein schwieriges Thema ist, wird es in anthroposophischen Kreisen diskutiert. Aus Sicht der jungen Ärztin geht es nicht nur um die Gesundheit von Menschen, „sondern zum Beispiel auch um Bodengesundheit, wo Anthroposophie im weitesten Sinne durch die Demeter-Landwirtschaft vertreten ist. Und es geht um eine globale Gesundheit – wo wir in Zukunft hoffentlich auch einen Beitrag leisten können.“

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