Beobachter über Abschiebungen: „Ein krasser Eingriff in das Sein“

Felix Wieneke ist am Hamburger Flughafen als Beobachter dabei, wenn Menschen abgeschoben werden. Ein Gespräch über Kinderschutz und das Wegschauen.

Hinter Stacheldrahtzaun ist der Hamburger Abschiebeknast zu sehen

Trostlosigkeit in einem Bild: Abschiebeknast am Hamburger Flughafen Foto: Axel Heimken/dpa

taz: Herr Wieneke, Sie sind Abschiebungsbeobachter. Was heißt das?

Felix Wieneke: Ich bin als neutrale Instanz am Hamburger Flughafen anwesend, wenn Menschen von dort in andere Länder abgeschoben werden. Von dem Moment an, wo sie von der Ausländerbehörde zum Flughafen gebracht werden, bis zum Einstieg in das Flugzeug. Ich achte darauf, dass Pro­bleme nicht einfach nur passieren, sondern dass sie dokumentiert und aufgearbeitet werden. Es gibt ein Gremium, das Flughafenforum, in dem sich die Verantwortlichen dann erklären und die Fälle besprochen werden.

Sie stehen nur daneben und greifen nicht ein?

Abschiebungsverfahren sind immer sehr extreme Situationen. Die Menschen, die abgeschoben werden, wehren sich häufig dagegen, weil sie einfach nicht gegen ihren Willen irgendwohin gebracht werden wollen. Kein Mensch will das, das ist eine der äußersten Maßnahmen, die unser Staat trifft, und ein krasser Eingriff, nicht nur in die Rechte, sondern in das Sein der Menschen. Wenn ich sehe, dass etwas schiefläuft, beispielsweise Gewalt in unverhältnismäßigem Maße angewandt wird, dann interveniere ich nicht selbst, sondern wende mich an die handelnden Personen, in diesem Fall an die Polizei, die ihr Vorgehen dann noch einmal bewerten kann. Ich kommuniziere also mit den Verantwortlichen, aber ich habe keine juristische Kompetenz, sodass ich ein Veto gegen eine Maßnahme einlegen könnte.

Damit befinden Sie sich in einem Spannungsfeld zwischen Behörden und Betroffenen.

Ja, das ist schon schwierig. Auf der einen Seite stehen die Betroffenen, die in mir jemanden sehen, der ihre Abschiebung verhindern kann. Aber ich kann diese Erwartung nicht erfüllen. Das ist auch für mich nicht einfach.

Und auf der anderen Seite stehen die Behörden.

Die wissen, dass ich ihr Handeln kontrolliere. Manche fühlen sich dadurch auf den Schlips getreten. Diejenigen, die mich und meine Arbeit kennengelernt haben, haben aber erkannt, dass meine Arbeit ein konstruktiver Weg ist, Dinge zu reflektieren und kritikwürdige Aspekte ihrer Arbeit zu besprechen.

Leisten Sie einen Beitrag zur Akzeptanz von Abschiebungen?

Diese Frage kommt oft, aber das ist nicht richtig. Natürlich bewege ich mich in diesem Kontext und durch meine Präsenz akzeptiere ich gewissermaßen die Gültigkeit der Entscheidungen, die da getroffen wurden.

Aber?

30, ist Abschiebungsbeobachter in Hamburg. Das Projekt wird vom Diakonischen Werk getragen und von der Innenbehörde finanziert. Der aktuelle Jahresbericht ist auf www.diakonie-hamburg.de abrufbar. Abschiebebeobachter gibt es auch in Düsseldorf, Frankfurt/Main und Berlin.

Aber mein Auftrag ist nicht, Abschiebungen per se infrage zu stellen. Es gibt eine demokratische Mehrheit, die dafür ist, dass es diese Verfahren gibt. Wenn ich das ändern wollte, müsste ich in die Politik gehen. Ich muss aber nicht akzeptieren, dass es ein staatliches Verfahren gibt, das so intransparent ist. Mein Auftrag ist, das zugänglicher zu machen für Außenstehende. Wenn man den Jahresbericht liest, sieht man, dass wir vor allem Probleme benennen. Das ist die Idee: Wir brauchen eine Fehlerkultur in den Bereichen des staatlichen Handelns und in diesem ganz besonders, weil er das Leben von Menschen betrifft. Es ist kein gutes Zeichen, dass das unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiert.

Finden im Moment überhaupt Abschiebungen statt?

Seit dem 13. März gibt es einen faktischen Abschiebungsstopp am Hamburger Flughafen. Die Behörden führen Abschiebungsverfahren weiter und die Ausreisepflicht bleibt bestehen. Aber aufgrund von Grenzschließungen und fehlenden Flugverbindungen finden derzeit keine Abschiebungsflüge von Hamburg aus statt. Was mit Abschiebung per Auto oder Schiff ist, kann ich nicht sagen. Solche Abschiebungen gibt es ja auch, aber die beobachte ich nicht.

In Ihrem neuen Jahresbericht benennen sie 20 diskussionswürdige Fälle. Was heißt das?

Das heißt, dass aus meiner Sicht etwas nicht so gelaufen ist, wie es hätte laufen sollen, beispielsweise weil Gewalt angewandt wurde.

Sie fordern einen speziellen Bereich für Kinder am Flughafen. Sind Abschiebungen von Kindern vertretbar?

Ich persönlich halte das nicht für vertretbar. Es gibt diesen Rechtsrahmen, aber manche Situationen bilden sich in der Realität einfach anders ab. Natürlich könnte das Land einfach eine Erlassregelung machen, dass Kinder nicht abgeschoben werden. Solange das nicht passiert, brauchen Kinder einen geschützten Raum. Das haben wir oft geäußert, das ist bisher nicht passiert.

Sie schildern auch einen Fall, in dem eine Landespolizistin ein Kind massiv unter Druck gesetzt und ihm gedroht hat, es werde ohne seine Mutter abgeschoben, wenn diese nicht mitwirke.

Das ist für mich untragbar. Es gibt auch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen die Beamtin.

Sie kommt wegen einer erzwungenen Medikamentengabe bereits in Ihrem letzten Bericht vor.

Ja, es handelt sich um dieselbe Person. Als es um die Medikamente ging, wurde das Verfahren eingestellt, jetzt wieder aufgenommen. Ich wurde dazu noch nicht befragt. Ich weiß nicht, wie dieses Verfahren abläuft. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Es ermittelt eine Staatsanwaltschaft gegen eine Polizeibeamtin, das ist alles, was ich dazu sagen kann.

Hamburg hat schon extra Ambulanzflugzeuge gemietet, um kranke Menschen abzuschieben. Wie wird das gerechtfertigt?

Juristisch gesehen besteht in diesen Fällen eine Ausreisepflicht, die von den Behörden durchgesetzt wird. Die Ausländerbehörde stellt eine Rechnung auf: Was kostet die Maßnahme und was würde die Weiterbehandlung kosten? Das sind sehr, sehr traurige Argumente. Ich finde, es ist nicht zu rechtfertigen, dass Menschen, die schon unter einer Belastung stehen, vielleicht sogar an einer tödlichen Krankheit leiden, so eine Maßnahme auferlegt wird. Eine Person die krank ist, braucht besonderen Schutz. Mein Eindruck ist, dass der politische Wille, eine bestimmte Abschiebungsquote zu erreichen – den gibt es ja –, vor allem auf Kosten der Menschen durchgesetzt wird, die weniger mobil sind, die weniger vernetzt sind und die vielleicht leichter aufzufinden sind, weil sie sich wegen ihrer Behandlung anderen anvertrauen müssen.

Bedingung dafür ist ja die Reisefähigkeit der Betroffenen. Auch das ist nicht unumstritten.

2016 gab es eine Gesetzesänderung. Der Vorwurf war damals, dass Menschen Scheinatteste ausgestellt würden, damit sie nicht abgeschoben werden. Deshalb wurden die Abschiebehindernisse abgesenkt. Jetzt geht es nur noch um die Frage: Kann die Person fliegen? Wie es in dem Land, in das sie gebracht wird, weitergeht, ist unerheblich. Die Ärztinnen und Ärzte, die die Gutachten jetzt erstellen, sind nur der Behörde berichtspflichtig, die sie beschäftigt, und öffentlich nicht ansprechbar. Da besteht keine Unabhängigkeit, sondern ein klares Interesse, bestimmte Dinge durchzuziehen. Das finde ich höchst fragwürdig.

Auf einer Konferenz forderten Sie vor einigen Wochen, dass jede*r Politiker*in sich die Realität einer Abschiebung mal ansehen müsste. Warum?

Ich habe am Anfang immer gedacht: Ich schreibe diesen Jahresbericht und dann wird der von allen gelesen, dann kommen Rückfragen und ich gehe in die entsprechenden Ausschüsse. Ich habe aber gemerkt, dass die Informationen meistens gar nicht in die Parlamente und Entscheidungsebenen vordringen. Deshalb plane ich gerade unterschiedliche Formate, um die Informationen weiterzugeben. Ich finde, es steht uns allen, nicht nur Deutschland, nicht gut, das Thema Abschiebung so an den Rand zu drängen. Wir müssen uns damit befassen, dass es diese Zugehörigkeitsfragen gibt und dass diese nach wie vor auf eine sehr gewaltsame Weise gelöst werden. Da kann man nicht einfach wegschauen.

Das gilt aber für alle Mitglieder der Gesellschaft.

Ich merke das auch privat. Wenn ich jemandem erzähle, was ich mache, dann gibt es zwei Reaktionen. Entweder: Wow, spannend, erzähl mal. Oder das Gespräch wird sofort unterbunden. Vielleicht ist das so ein Convenience-Gedanke der Gesellschaft. Ich kann das auch verstehen, das ist ein heikles Thema und heikle Themen hält man lieber von sich fern. Aber das geht nicht. Abschiebungen passieren im Namen aller, die nicht dagegen sind. Wir müssen genauer hinsehen und nicht immer nur über Zahlen reden.

Das klingt, als hätten Sie sich Ihre Arbeit anders vorgestellt.

Ich dachte, das Thema sei so wichtig, dass ich von verschiedenen Stellen mehr abgefragt werde, dass mehr Kritik oder Zuspruch kommt.

Grundlage der Finanzierung Ihrer Stelle ist der Koalitionsvertrag von SPD und Grünen. Nun laufen neue Koalitionsverhandlungen. Wie wird es weitergehen?

Wir haben mehrfach betont, dass es gut wäre weiterzumachen, und auch die Behörden, mit denen wir reden, sind sich da einig. Wenn diese Signale bei den Parteien gehört werden, kann ich mir gut vorstellen, dass es weitergeht. Allerdings würde ich Wert darauf legen, sich nochmal darüber zu unterhalten, wie die Beobachtung gestaltet wird.

Was meinen Sie?

Ich finde es wichtig, für die Beobachtung einen größeren Ausschnitt zu wählen, um das Verfahren überhaupt fassen zu können. Wenn ich am Flughafen die Menschen treffe, ist schon viel passiert. Diese Informationen fehlen mir, genau wie das, was nach der Abschiebung passiert. Ich denke, das ist ein Teil des Wegschauens. Im Moment kann ich nicht mal 25 Prozent der Abschiebungen aus Hamburg beobachten. Es braucht mehrere Beobachter. Ich wünsche mir auch eine formale Interventionsmöglichkeit und dass eben nicht nur eine Diskussion geführt wird aufgrund des Jahresberichts, sondern dass auch Ziele verabredet werden. Das müsste man dann natürlich mit denen machen, die das politisch verantworten. Es geht nicht darum, dass ich dazu da sein will, Abschiebungen zu verhindern, ich leite diese Forderungen aus meinen Erfahrungen ab. Wenn man weiß, was bei Abschiebungen passiert, sind die Forderungen nachvollziehbar.

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