: Mit Erdoğans Bussenins Tal der Tränen
Tausende von Flüchtlingen hausen derzeit an der türkisch-griechischen Grenze. Aus der EU werden sie mit Tränengas beschossen. Und die Gewalt gegen sie könnte zunehmen
Von Christian Jakob und Vecih Cuzdan (Edirne)
Türkiye Um Nihad ist mit ihren fünf Kindern im Taxi an die türkisch-griechische Grenze gekommen. Die syrische Familie stammt aus dem Osten Aleppos und kam vor vier Jahren als Flüchtling in die Türkei. „Meinst du, sie machen die Grenze auf?“, fragt Um Nihad.
Die griechische Grenzstadt Kastanies liegt nur wenige hundert Meter vom türkischen Pazakule entfernt. Stacheldraht und Barrieren versperren den Weg. Wann immer sich jemand der Grenzanlage nähert, schießen griechische Soldaten mit Tränengas und Blendgranaten. Türkische Soldaten schießen scharf zurück in die Luft. Die Menschen irren zwischen den türkischen und griechischen Grenzposten hin und her. Frauen und Kinder werden in der Panik niedergetrampelt.
Manche der Flüchtlinge versuchen ihr Glück am Grenzfluss Meriç. 600 türkische Lira (knapp 90 Euro) kostet ein Plastikboot, weitere 600 pro Fahrgast. Die Schleuser geben sogar TV-Interviews. Sie sehen keinen Grund, sich zu verstecken – schließlich kommt der Befehl, die Flüchtlinge ziehen zu lassen, von ganz oben: von Erdoğan.
3,9 Millionen Schutzsuchende halten sich in der Türkei auf. Das sind mehr als in jedem anderen Land der Welt, wenn man Binnenvertriebene nicht mitrechnet. Seit Freitag werden sie vom türkischen Präsidenten Erdoğan benutzt, um die EU zu erpressen. Die türkischen Medien berichteten von einer „Grenzöffnung“, die Türkei stellte medienwirksam Busse bereit. Bis Sonntagmorgen versammelten sich daraufhin nach Angaben der UN-Migrationsorganisation IOM rund 13.000 Flüchtlinge an der Grenze zu Griechenland.
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu heizte die Stimmung weiter an und twitterte am Sonntagmorgen, es hätten 76.358 Menschen das Land über den Grenzübergang Edirne verlassen. Die griechische Regierung meldete erheblich geringere Zahlen. Sie sprach lediglich von 66 „illegal Eingereisten“, die festgenommen worden seien.
Gleichwohl war die Situation dramatisch: Rund 4.000 Menschen wurden mit Gewalt daran gehindert, die Landgrenze zu passieren. Athen hat die Grenzsicherung verschärft, neben Soldaten und Polizisten an der Landgrenze patrouillierten die Marine und die Küstenwache mit 52 Schiffen in der Ägäis.
Tatsächlich hat Erdoğan die Grenze nicht „geöffnet“, sondern Flüchtlinge nur demonstrativ ermutigt, sie zu überqueren. Das haben sie in der Vergangenheit auch ohne das Getöse aus Ankara getan: 2019 sind laut dem UNHCR rund 75.000 Menschen aus der Türkei in Griechenland angekommen, seit Jahresbeginn 2020 waren es offiziell 6.700 Menschen.
Erdoğans Vorstoß löste am Wochenende in den EU-Hauptstädten Alarm- und in rechten Kreisen Pogromstimmung aus. Doch es setzen sich nicht Millionen Menschen in Busse, um sich mit Tränengas beschießen zu lassen, nur weil Erdoğan mit den Fingern schnippt. Viele der Flüchtlinge haben in der Türkei ein – wenn auch dürres – Einkommen gefunden, eine Bleibe, ihre Kinder gehen dort zu Schule. Hinzu kommt: Die meisten Flüchtlinge wollen am liebsten in der Nähe der alten Heimat bleiben.
Ein möglicher Sog dürfte deshalb weniger die große Zahl an SyrerInnen in der Türkei erfassen als vielmehr die – sehr viel geringere Zahl an – Menschen aus Afghanistan und anderen Ländern, die in der Türkei praktisch nichts bekommen. Hier liegt tatsächlich eine aktuelle Parallele zu 2015: Aufgebrochen waren damals vor allem jene, die lokal nicht ausreichend versorgt wurden.
Erdoğan hat seinen Schritt damit begründet, die EU habe sich nicht an ihre Zusagen für die Flüchtlingshilfe gehalten. Das ist nur zur Hälfte wahr. Die EU hat der Türkei für die Jahre 2016 bis 2019 insgesamt 6 Milliarden Euro an Hilfen in Aussicht gestellt. Bis Oktober 2019 wurden davon 2,4 Milliarden ausgezahlt.
Erdoğan hat vor allem nicht gepasst, dass das Geld nur zu einem geringen Teil – etwa 700 Millionen – an den türkischen Staat geht. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um einen Zuschuss für das türkische Gesundheits- und Bildungssystem, die durch die Flüchtlinge zusätzlich belastet sind.
Wäre die gesamte europäische Hilfe an den türkischen Staat gezahlt worden, wäre kaum zu kontrollieren gewesen, wie viel bei den Flüchtlingen ankommt. Das Gros der EU-Hilfen fließt deshalb über Hilfsorganisationen wie den türkischen Roten Halbmond oder das Welternährungsprogramm WFP an etwa 1,7 Millionen Flüchtlinge im Land. Viel kommt allerdings trotzdem nicht an: Der Regelsatz liegt monatlich bei umgerechnet etwa 20 Euro pro Person.
Der Türkei ist in dem „Deal“ von 2016 die Umsiedlung von bis zu 72.000 Flüchtlingen aus Syrien in die EU in Aussicht gestellt worden. Die letzte verfügbare Statistik aus Brüssel dazu stammt vom März 2019. Bis dahin waren nur rund 20.300 Menschen umgesiedelt worden. Formal gesehen ist das allerdings kein Wortbruch der EU. Denn die versprochene Umsiedlung war gekoppelt an der Zahl der Menschen, die von Griechenland in die Türkei zurückgeschickt wurden. Und das waren nur sehr wenige, denn die griechischen Gerichte haben die Türkei meist nicht als „sicheren Drittstaat“ eingestuft.
Menschenrechtsorganisationen forderten am Wochenende, die Grenzen aufzumachen und Erdoğans Erpressung ins Leere laufen zu lassen. Die Forderung ist moralisch richtig, weil die EU zwar 22 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erwirtschaftet, aber – Großbritannien eingerechnet – nur knapp 6 Prozent der weltweit Vertriebenen aufgenommen hat. Und sie ist juristisch richtig, weil die EU einen Rechtsanspruch für Ankommende festgeschrieben hat, einen Asylantrag stellen zu können.
Doch die Vorgänge von 2015 inklusive der folgenden, geradezu tektonischen Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in der EU, steckt den Regierungen allerorten noch zu sehr in den Knochen, als dass sie sich auf eine Grenzöffnung einlassen würden. Der konservative griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis wurde 2019 für einen harten Antiflüchtlingskurs gewählt und hat bislang keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass er den auch beizubehalten gedenkt.
Wenn sich die Situation an den Grenzen weiter aufheizt, ist zu befürchten, dass Polizei oder Militär – sei es in Griechenland, in Bulgarien oder weiter nördlich – nach einer Weile eine „Notwehrsituation“ behaupten und schießen würde. Wenn die Türkei dann ihrerseits die Menschen nicht wieder zurücklässt, ist die Katastrophe total.
Die EU wird solche Gewalt nicht unterbinden: Erst vor einer Woche hat der Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, in einem Zeit-Interview den Gebrauch von Waffen an den Grenzen das „letzte Mittel“ genannt – wohlgemerkt nicht für einen fiktiven Notwehrfall, in dem das Leben von Polizisten in Gefahr wäre, sondern um die „Souveränität eines Staates“ zu schützen und Grenzübertritte zu verhindern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen