„Erschreckende Alltäglichkeit“

Die Landesweite Informations- und Dokumentationsstelle Antisemitismus in Schleswig-Holstein (Lida) veröffentlicht ihren ersten Jahresbericht. Leiter Joshua Vogel über Einstellungen und Handlungen und die Wandelbarkeit des Antisemitismus

Ein Großteil antisemitischer Vorfälle sind solche Schmierereien: ein Hakenkreuz und ein durchgestrichener Davidstern in einer Gedenkstätte Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Interview Esther Geißlinger

taz: Herr Vogel, Sie und Ihr Team haben im vergangenen Jahr 51 antisemitische Vorfälle in Schleswig-Holstein dokumentiert, also knapp einen pro Woche. Was sagt diese Zahl, lässt sich daraus eine Tendenz ablesen?

Joshua Vogel: Konkret bezieht sich die Zahl 51 auf Januar bis Oktober, weil wir noch Zeit für die Auswertung brauchten. Über das ganze Jahr betrachtet haben wir also mehr als einen Fall pro Woche. Für Tendenzen oder Entwicklungen haben wir noch zu wenige Daten, da wir erst im Herbst 2018 mit der Arbeit begonnen haben. Wir können zurzeit nur einen Ist-Zustand­ beschreiben.

Um was für Vorfälle geht es eigentlich?

Die meisten sind niedrigschwellige Taten, die sich nicht gegen eine konkrete Person oder Einrichtung richten, etwa Beleidigungen und Sachbeschädigungen im öffentlichen Raum wie die Schmiererei „Hamas, hamas – Juden ins Gas!“ auf einer Plakatwand oder Aufkleber mit antisemitischen Parolen an Bushaltestellen. Oft sind es Bemerkungen oder Bilder in Chatgruppen.

Zum Beispiel?

Unter Jugendlichen werden häufig Memes ausgetauscht, in denen die Schoah verächtlich gemacht oder verharmlost wird. Aber es gibt auch die Beschädigung von Stolpersteinen. In einem Fall geht es um einen Kommunalpolitiker, der eine Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz organisiert und dafür Morddrohungen erhalten hat.

Ändert sich da etwas, wird latent vorhandener Antisemitismus sichtbarer – oder zeigt er sich nur anders?

Wenn wir uns Studien zur Einstellung anschauen, gibt es immer einen Grundstock von Menschen mit antisemitischen Weltbildern. Ob die Zahlen zunehmen, können wir für Schleswig-­Holstein noch nicht sagen. Wir können ohnehin nur sehen, wenn sich Einstellung in Handlungen ausdrückt. Aber gerade weil es um so niedrigschwellige Dinge geht, verweist das in unseren Augen auf eine erschreckende Alltäglichkeit.

Wandeln sich die Formen?

Ja, etwa durch das Netz. Es werden in Bilder, die Auschwitz­ zeigen, eigene Fotos hineinkopiert.­ Oder Hitler wird als popkulturelle Ikone dargestellt. Wir erleben einen Post-Schoah-­Antisemitismus, der von Abwehr der Erinnerungskultur bis hin zur Leugnung der Schoah geht. Antisemitismus, auch das wissen wir aus Studien, ist wandelbar. Da er der sozialen Norm widerspricht, wird er daher häufig verdeckt artikuliert. Aktuell ist das der Bezug auf israelische Politik sowie Verschwörungstheorien.

Woher erfahren Sie von diesen Fällen, wer meldet sich bei Ihnen?

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Joshua Vogel, 30, Politikwissenschaftler und Pädagoge, aus Nordrhein-Westfalen, seit 2018 bei Lida, vorher bei Zebra Betroffenenberatung und Monitoring rechter Gewalt.

Weil wir auf Vertraulichkeit setzen, erfragen wir keine Infos von Meldenden. Ob sie zum Beispiel selbst jüdisch sind, ist nicht relevant. Oft stammen Informationen von anderen Organisationen, angefangen bei den jüdischen Landesverbänden. Wir vernetzten uns weiter, etwa mit Sportverbänden, die rassistische und antisemitische Beleidigungen ohnehin dokumentieren, aber bisher nicht bei Lida melden.

Gibt es räumliche Schwerpunkte?

Wenig überraschend erhalten wir die meisten Meldungen aus den größeren Städten Kiel, Lübeck, Flensburg. Einerseits passiert dort wahrscheinlich tatsächlich mehr, aber vor allem sind es Orte, wo es uns leichter fällt, uns bekannt zu machen, weil auch die Zivilgesellschaft stärker institutionalisiert ist. In ländlichen Gebieten ist es schwerer für uns, AnsprechpartnerInnen zu finden.

Lässt sich einschätzen, wie Schleswig-Holstein im Bundesvergleich dasteht?

Dazu können wir noch wenig sagen, aber im Lauf des Frühjahrs wollen alle Beratungs- und Dokumentationsstellen, die es im Bund gibt, also Berlin, Bayern, Brandenburg, Schleswig-Holstein, ihre Zahlen vorlegen, damit wir einen Blick für lokale Unterschiede bekommen. Ich denke, der Gesamtbefund wird zeigen, dass es jenseits einzelner Taten ein konstantes Grundrauschen an Vorfällen gibt. Das ist in allen Ländern tief verwurzelt.