Netflix-Flim der Safdie-Brüder: Er lügt und er betrügt
Die Safdie-Brüder gelten als manisches Regie-Duo. „Der schwarze Diamant“ heißt ihr Netflix-Film über einen Mann, der die Kontrolle verliert.
Im Moment des Todes, so heißt es, sieht sich der Sterbende durch einen Tunnel gleiten. Als Tunnelblick wird die Fähigkeit bezeichnet, sich zu fokussieren, alles Unwichtige auszuschalten und nur das Ziel im Auge zu haben. In einem ganz realen Tunnel beginnt „Der schwarze Diamant“, der neue Film der New Yorker Safdie-Brüder, die dabei sind, sich den Ruf eines manischen, hyperkinetischen Regie-Duos zu erarbeiten, die Filme drehen, in denen meist höchst unsympathische Männer im Mittelpunkt stehen.
Ein Tunnel also, in Äthiopien, in einer Diamantenmine, wo zwei Arbeiter einen Steinbrocken aus dem Fels hauen, in dem unzählige Opale in allen Farben des Universums schimmern. Weiter geht die Kamerafahrt durch einen Tunnel, der sich langsam in etwas Organisches verwandelt, einen Tunnel im Inneren eines Mannes, den Darm von Howard Ratner (Adam Sandler).
Ganz ruhig liegt Ratner in diesem Moment auf dem Behandlungstisch, während sein Arzt eine Darmspiegelung vornimmt, und so ruhig und gelassen wird Ratner in den folgenden zwei Stunden nie wieder sein.
Die Frage, ob er Darmkebs hat oder nicht, ist dabei nicht einmal die wichtigste, die einzige, in der es um Leben und Tod geht. Denn Ratner ist einer dieser Menschen, der immer viele Bälle in der Luft hat, der versucht, allem und jedem gerecht zu werden, dabei aber unweigerlich immer wieder die Kontrolle zu verlieren droht.
Träume und Versprechen
Ratners Arbeitsplatz ist der New Yorker Diamantenbezirk, in dem vor allem sephardische Juden wie er in kleinen Kabuffs, die mit Doppeltüren aus Panzerglas geschützt sind, Deals aushandeln. Um viel Geld geht es hier, um spekulative Geschäfte, um Träume und Versprechen.
„Der schwarze Diamant“. Regie Benny Safdie, Josh Safdie. Mit Adam Sandler, Keith Stanfield u. a. USA 2019, 135 Min. Läuft auf Netflix
So ein Versprechen ist der Stein mit den Opalen, auf den Ratner setzt. Millionen soll er bei einer Auktion bringen, Millionen, die Ratner dringend braucht, um seine Spielschulden bei einem typisch grimmigen New Yorker Kredithai zu begleichen, der längst keine Lust auf seine Vertröstungen und Versprechen mehr hat.
Dass Ratner gerne wettet, auf Basketballspiele vor allem, macht ihn empfänglich für einen besonderen Kunden: Kevin Garnett, ein ehemaliger Weltklassebasketballer der Boston Celtics, der sich selber spielt. Auch Garnett hat es der Opal angetan, für ein paar Stunden will er ihn ausleihen, als Glücksbringer für das Spiel am Abend, und damit beginnt das Drama endgültig.
Wie viele Bälle sind das inzwischen? Der Opal, die Schulden, das Wetten. Dazu kommen eine Frau, eine Geliebte und auch noch ein Pessach-Essen bei Ratners älterem, erfolgreicherem Bruder Arno (Eric Begosian).
Eine rastlose Welt
Wer „Good Time“ gesehen hat, den bislang einzigen Film der Brüder Josh und Bennie Safdie, der in den deutschen Kinos lief, mag ahnen, was in „Der schwarze Diamant“ passiert, vor allem aber, wie es sich anfühlt. Denn mehr, als Geschichten zu erzählen, werfen die Safdies ihre Hauptfigur und mit ihr den Zuschauer in eine rastlose Welt.
Diesmal führt Darius Khondji die Kamera, die kaum einen Moment innehält, die stets leicht unruhig das Geschehen filmt, das meist in engen Räumen spielt, in denen sich immer zu viele Personen aufhalten.
Unruheherd Adam Sandler
Neben der pulsierenden Musik von Daniel Lopatin, der schon „Good Time“ mit einem nervenaufreibenden Klangteppich unterlegte, ist der größte Unruheherd Adam Sandler, der jahrelang gleichzeitig einer der bestbezahlten Schauspieler Hollywoods war und so wenig ernst genommen wurde wie kaum ein anderer. Was daran lag, dass Sandler meist in Komödien wie „Big Daddy“ oder „Jack und Jill“ auftrat und meist so wirkte, als spiele er sich selbst.
Dass er mehr kann, das zeigte Sandler nur selten, das erste Mal 2002 in „Punch-Drunk Love.“ Damals nutzte Paul Thomas Anderson Sandlers stets unruhigen Körper, mit seinen etwas zu langen, schlaksigen Gliedmaßen, für das Porträt eines Mannes, der von einem Betrüger in den Wahnsinn getrieben wird.
Eine eigene Nische etablieren
Man darf davon ausgehen, dass die Safdies auch diesen Film im Kopf hatten, als sie Sandler besetzten, so wie auch manch anderen klassischen New-York-Film mit mehr oder weniger manischen Helden. An Martin Scorseses Frühwerk „Hexenkessel“ muss man denken oder an „Die Zeit nach Mitternacht“, in dem Griffin Dunne eine surreale Nacht durchlebt, oder an Abel Ferraras „Bad Lieutenant“, in dem Harvey Keitel einen drogensüchtigen Polizisten spielt, der alles auf ein Baseballspiel setzt.
Sosehr sich die Safdies jedoch der Filmgeschichte bewusst sind, sind sie mit ihrem vierten Film auf dem besten Weg, ihre ganz eigene Nische zu etablieren. Waren ihre ersten beiden Filme „Go Get Some Rosemary“ und „Heaven Knows What“ noch weitestgehend typische Independent-Filme, haben sie mit „Good Time“ das Tempo angezogen.
Hyperkinetischer Exzess
Dort war es Robert Pattinson, der sein „Twilight“-Image mit betonter Hässlichkeit – soweit das bei ihm eben geht – durchbrach und fast einen ganzen Film nur rannte, hier ist es nun Adam Sandler, mit dem die Safdies ein neues Level erreichen.
Über zwei Stunden einen unsympathischen, lügenden, betrügenden Antihelden zu zeigen, von dem man dennoch nicht für einen Moment den Blick abwenden kann, das muss man erst einmal schaffen. Wie es mit den Safdies nach diesem hyperkinetischen Exzess weitergeht, darauf kann, darauf muss man gespannt sein.
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