Die Milliarden-Diebe

Nigeria ist berüchtigt für das Ausmaß an Korruption. Es sind vor allem Journalist*innen, die diese aufdecken. Zu kämpfen haben sie dabei auch mit der Justiz, die gegen sie in Stellung gebracht wird

Der Staat verliert durch Korruption in Nigerias Ölindustrie enorme Summen Foto: Photoshot/imago

Da gab es die Geschichte von der Schlange, die 35 Millionen Naira (knapp 87.000 Euro) gefressen haben soll. Die Buchhalterin Philomina Chieshe von der Hochschul-Zulassungsstelle im Bundesstaat Benue hatte sie erzählt, nachdem an ihrem Arbeitsplatz ebenjene 35 Millionen Naira fehlten. Doch niemand glaubte ihr, dass eine Riesenschlange die Summe in bar hinuntergeschluckt hat und dann verschwunden ist. Chieshes Gerichtsverhandlung dauert im Januar 2020 noch an.

Es gibt viele solcher Geschichten in Nigeria – wenngleich nicht alle so absurd sind – denn es gibt viel Korruption im Land. Im Index von Transparency International steht Nigeria auf Rang 144 von 180 Staaten. Allein der Militärdiktator Sani Abacha soll während seiner fünfjährigen Herrschaft von 1993 bis 1998 rund fünf Milliarden Dollar gestohlen und teils in die Schweiz gebracht haben. Bei einer 2017 veröffentlichten Umfrage der Nationalen Statistikbehörde Nigerias gab jeder dritte Befragte an, Kontakt zu einem bestechlichen Beamten gehabt zu haben. Im Schnitt hatten diese Befragten durchschnittlich etwa sechs Bestechungsgelder im Jahr gezahlt – und ein Achtel ihres Einkommens dafür aufwenden müssen. Das UN Office on Drugs and Crime geht davon aus, dass in jenem Jahr insgesamt umgerechnet 4,6 Milliarden Dollar an Bestechungsgelder an nigerianische Beamte geflossen sind.

Dagegen vorzugehen ist seit jeher die Aufgabe der Medien. Und diese können dabei durchaus Erfolge verzeichnen. 2018 etwa gelang es investigativen Journalisten, die ehemalige Finanzministerin Kemi Adeosun der Urkundenfälschung und versuchter Vertuschung zu überführen. Sie musste zurücktreten.

Der bei weitem spektakulärste Fall von Korruptionsaufdeckung in der jüngeren Vergangenheit ist der sogenannte Malabu-Ölskandal. Dabei handelt es sich um einen Deal zwischen den damaligen Chefs der Ölkonzerne Shell und Eni (früher Agip) mit dem früheren nigerianischen Ölminister Dan Etete. Für ein Ölfeld vor der nigerianischen Küste zahlten die beiden Konzerne zusammen 1,3 Milliarden US-Dollar. Doch das Gros des Geldes landete nicht beim Staat, sondern in den Taschen von korrupten Beamten wie Etete. Rund 1,1 Milliarden Dollar gingen dem Staat Nigeria dadurch verloren. Auch der ehemalige Generalstaatsanwalt und Justizminister Mohammed Adoke ist in den Fall verwickelt. Hartnäckige Berichterstattung machte es unmöglich, dies zu vertuschen. Und nach vier Jahren wurde Adoke schließlich am 19. Dezember 2019 von den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Nigeria ausgeliefert.

Nigeria ist ein reiches Land. Es verfügt über eine Öl- und Gasindustrie, die dem Staat jedes Jahr Einnahmen in Milliardenhöhe verschafft. Trotzdem ist Nigeria geplagt von extremer Armut, maroder Infrastruktur und organisierter Kriminalität. Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist die Korruption. Durch diese gehen Nigeria enorme Ressourcen verloren, die für die Armutsbekämpfung dringend gebraucht werden.

Der im Februar 2019 wieder gewählte Präsident Muhammadu Buhari war unter anderem mit dem Versprechen angetreten, entschiedener gegen die Korruption vorzugehen. Doch seit er 2015 ins Amt kam, hat sich wenig getan – das Land zählt weiter zu den korruptesten weltweit.

Die Digitalisierung kann bei dieser Berichterstattung helfen und auch Datenjournalismus kann ein machtvolles Werkzeug im Kampf gegen Korruption sein. 2018 gründeten sechs investigative Nachrichtenredaktionen die unabhängige Whistleblowing-Plattform Leaks.NG. Die sechs Medien betreiben die Plattform gemeinsam, sie werten die eingehenden Hinweise kollektiv aus und koordinieren die Veröffentlichung ihrer Recherchen. Dieses Modell ist bislang das einzige seiner Art in Afrika, dem es gelungen ist, an die Stelle des Wettbewerbs die Kooperation zu setzen. Nachrichtenredaktionen haben so die Möglichkeit, ihre Ressourcen zu teilen und viel gründlicher zu recherchieren. Gleichzeitig erlaubt es ihnen, sich gemeinsam zur Wehr zu setzen, wenn sie zum Schweigen gebracht werden sollen.

Seit ihrer Gründung 2018 haben die Partner von Leaks.NG fünf Recherchen veröffentlicht. Allein 2019 führten zwei davon zu Ermittlungen der Antikorruptionsbehörden in Nigeria, der Economic and Financial Crimes Commission (EFCC) sowie der Independent and Corrupt Practices Commission (ICPC). In einem Fall führten sie gar zur Entlassung des Präsidenten des nigerianischen Fußballverbands, Amaju Pinnick, aus seinem Amt als Vizepräsident des afrikanischen Fußballverbands CAF im Juli 2019. Pinnick wird vorgeworfen, mit anderen Funktionären insgesamt 8,4 Millionen Dollar gestohlen zu haben, die der Welt-Fußballverband Fifa an Nigeria gezahlt hatte. Das Geld war für die Beteiligung der nigerianischen Nationalmannschaft an der WM in Brasilien gedacht.

Kein Teil des staatlichen Apparats ist von solchen Enthüllungen verschont geblieben: seien es die inneren Kreise der Regierung oder Institutionen wie Gefängnisse, die Justiz oder die berüchtigte Polizei. Diese Überwachung und Kontrolle der Macht durch die Medien bleibt nicht ohne starken Widerstand durch jene, die dabei ins Visier geraten. Das Umfeld, in dem investigative JournalistInnen in Nigeria heute agieren, ist repressiv.

Ex-Minister M. Adoke Foto: ap/picture alliance

Das ist eingehend belegt. Entsprechende Daten hat der Press Attack Tracker gesammelt. Dabei handelt es sich um eine zivilgesellschaftliche Plattform, die entwickelt wurde, um Verstöße gegen die Pressefreiheit zu dokumentieren und zu verfolgen. Allein im Jahr 2019 registrierte Press Attack Tracker 74 solcher Vorfälle, das waren durchschnittlich sechs Angriffe auf Journalist*innen pro Monat. Entsprechend blieb Nigeria auch im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen im Jahr 2019 auf Platz 120 von 158 beobachteten Staaten – und damit im „roten Bereich“. In den letzten Monaten wurden mehrere nigerianische Journalisten wegen ihrer Arbeit inhaftiert, während andere angegriffen und sogar getötet wurden, weil sie über Proteste berichteten.

Die gezielten Angriffen auf nigerianische Medien gehen dabei gleichermaßen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren aus – beide machen sich der Verletzung der Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit schuldig. Das Ausmaß dieser Angriffe ist auch das Ergebnis eines Rückzugs der Legislative und der Justiz aus ihrer Verantwortung für die Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten. Teils ist die Justiz an diesen Vorfällen sogar selbst beteiligt: In mehreren Fällen haben die Strafverfolger auf gefälschten vermeintlichen Beweisen beruhende Anklagen gegen Journalisten erhoben.

Ein prominentes Beispiel dafür ist etwa der Fall von Jones Abiri. Der war Herausgeber und Verleger der Zeitung The Weekly Source in der Stadt Yenagoa. Im Juli 2016 wurde er zum ersten Mal verhaftet. Das nigerianische Ministerium für Staatssicherheit hielt ihn aufgrund von Terrorismusvorwürfen fest und gewährte ihm mehr als zwei Jahre lang keinen Zugang zu seiner Familie oder einem Anwalt, es gab Spekulationen, dass Abiri tot sei. Später begann ein Prozess, am 12. Dezember 2019 musste Abiri sich vor einem Bundesgericht verantworten, wo er wegen Terrorismus, Sabotage und Cyberkriminalität angeklagt ist. Die Staatsanwaltschaft sagt, sie habe neue Beweise gegen ihn – hat aber den Richter um die Erlaubnis gebeten, diese Zeugen anonym zu halten. Abiris eigentliches „Vergehen“ besteht wohl eher darin, erfolgreich Korruption aufgedeckt zu haben.

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ist Referentin für Pressefreiheit beim Premium Times Centre for Investiga­tive Journalism in Abuja.

Ein Teil des Problems der nigerianischen Justiz ist ihre Schwerfälligkeit beim Schutz der Meinungsfreiheit. Die nigerianischen Gerichte sind notorisch nicht bereit, mutige, wenn nicht revolutionäre Entscheidungen von anderen Gerichten innerhalb der Common Law Tradition wie in Südafrika, Kanada, Indien und Ghana sowie von Regionalgerichten wie dem Ecowas-Gericht, das in mehreren Fällen zugunsten der Pressefreiheit entschieden hat, anzuerkennen. In einem dieser Urteile entschied das Gericht, dass der Schutz von Journalisten in der Verantwortung des Staates liegt. Die Unfähigkeit der nigerianischen Gerichte, solchen Präzedenzfällen zu folgen, ist ein Zeichen für die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die eine der größten Bedrohung für Nigerias Demokratie darstellt.