Den Haag nimmt Israel und Palästina in den Blick

Der Internationale Strafgerichtshof hat Ermittlungen zur Lage in den Palästinensergebieten angekündigt. Die Untersuchung soll sich auf mögliche Kriegsverbrechen erstrecken und könnte bereits 2020 beginnen

Nach dem Gaza-Krieg zwischen Hamas und Israel: zerstörter Straßenzug in Beit Hanun im Gazastreifen, 2014 Foto: Mohammed/salem/reuters

Von Andreas Zumach, Genf

Mit der seit über 52 Jahren währenden Straflosigkeit für mutmaßliche Kriegsverbrechen in den von Israel völkerrechtswidrig besetzten palästinensischen Gebieten Westjordanland, Gazastreifen und Ostjerusalem dürfte es 2020 ein Ende haben. Erste Ermittlungsverfahren durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu mutmaßlichen Verbrechen sowohl israelischer Militärs und Sicherheitskräfte als auch der Hamas und anderer Akteure im Gazastreifen könnten bereits in der ersten Hälfte des kommenden Jahres beginnen – vorbehaltlich einer noch ausstehenden Überprüfung der territorialen Zuständigkeit des IStGH für die drei Gebiete.

IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda geht davon aus, dass die territoriale Zuständigkeit auf jeden Fall gegeben ist. Am Freitag hatte sie das Ergebnis ihrer im Januar 2015 auf Antrag des „Staates Palästina“ eröffneten Voruntersuchung bekannt gegeben. „Alle in Artikel 53 des IStGH-Statuts verlangten Voraussetzungen zur Eröffnung von Verfahren sind erfüllt“, erklärte Bensouda. In den Gebieten seien „Kriegsverbrechen begangen worden“ und würden „weiterhin begangen“. Die Eröffnung von IStGH-Verfahren zu diesen Verbrechen sei „zulässig“, da die lokalen oder staatlichen Gerichte vor Ort „unwillig oder nicht in der Lage“ seien, Verfahren durchzuführen. Schließlich lägen „keine wesentlichen Gründe für die Annahme vor, dass die Durchführung von Ermittlungen nicht im Interesse der Gerechtigkeit liegt“.

Allerdings übergab die Chef­anklägerin die „hoch umstrittene Frage“, ob die drei besetzten Gebiete auch unter die territoriale Zuständigkeit des IStGH fallen, an eine dreiköpfige Vorprüfkammer des Gerichtshofes mit der Aufforderung zu einer „schnellen Untersuchung und Entscheidung“. Wie umstritten diese Frage ist, machten die Reaktionen der Regierungen Israels und der USA deutlich: „Der IStGH hat nur eine rechtliche Zuständigkeit für Petitionen, die von souveränen Staaten eingereicht wurden, aber es hat nie einen souveränen palästinensischen Staat gegeben“, erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu. US-Außenminister Mike Pompeo sagte: „Wir lehnen diese und jede andere Maßnahme, die sich auf unfaire Weise gegen Israel richtet, entschieden ab.“ Die Palästinenser verfügten „nicht über einen souveränen Staat“ und könnten somit auch kein „vollständiges Mitglied“ in Institutionen wie dem IStGH sein. Israel und die USA sind dem 1998 in Rom gegründeten IStGH bis heute nicht beigetreten und lehnen jegliche Zuständigkeit des Gerichts für die Verfolgung von Verbrechen ihrer Staatsbürger ab. Hingegen wurde der „Staat Palästina“ 2015 auf gemeinsamen Antrag der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank und der im Gazastreifen regierenden Hamas Mitglied des IStGH und unterwarf sich damit ausdrücklich seiner Jurisdiktion. Zuvor hatte die UNO-Generalversammlung 2012 den langjährigen Beobachterstatus Palästinas aufgewertet zum „Nichtmitglied-Beobachterstaat“. Auf dieser Basis wurde der „Staat Palästina“ neben seinem Beitritt zum IStGH inzwischen auch von einer Reihe von UNO-Unterorganisationen aufgenommen und trat zahlreichen multi- und bilateralen Abkommen bei.

Chefanklägerin Bensouda macht in ihrem über 112-seitigen Untersuchungsauftrag an die Vorprüfkammer deutlich, dass sie aufgrund dieser völkerrechtlichen Entwicklung der letzten sieben Jahre die territoriale Zuständigkeit des IStGH für die besetzten Gebiete ohne Einschränkung für gegeben hält. Für den Fall, dass die Prüfkammer dieser Meinung nicht folgen sollte, verweist Bensouda ersatzweise auf die Genfer Konventionen und auf seit 1947 gefasste Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrates und der Generalversammlung sowie auf Urteile des Internationalen Gerichtshofs zum Nahostkonflikt, aus denen sich die territoriale Zuständigkeit des IStGH ergebe. Notwendig sei eine für alle Seiten verbindliche Klärung dieser Frage, bevor der IStGH tatsächlich Ermittlungsverfahren zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen eröffnet, betont die Chefanklägerin mehrfach. Denn daraus ergäben sich Konsequenzen mit Blick auf die Verpflichtung Israels, der Palästinenser und anderer Beteiligter zur Kooperation mit dem Gericht.