die gesellschaftskritik: Lob der Niederlage
Im Achtelfinale der Fußball-Champions-League gibt es eine Wiederauflage des Endspiel von 2012: Bayern gegen Chelsea. Ob es so schön wie damals wird?
Profifußball nimmt zu viel Raum ein, im Leben vieler Menschen wie in der medialen Berichterstattung, es steckt zu viel Geld drin, zu viele politisch Interessierte nehmen Einfluss, der Fußball ist schon lange nicht mehr die schönste Nebensache der Welt, sondern eine der unwichtigsten, ja verächtlichsten Pseudo-Hauptsachen. Profifußball ist Ideologie, ist falsches Bewusstsein – und doch kann er Ereignis sein und somit Sinn stiften: Weil er unser Leben gliedert. Der italienische Journalist Aldo Cazzullo hat diesen Erinnerungswert des fußballerischen Großereignisses einmal schön auf den Punkt gebracht, in einem Büchlein über den Sieg der Italiener bei der WM 2006 in Deutschland. Cazzullo schrieb, der Sommer 2006 würde für ihn immer der bleiben, „in dem wir noch jung waren, in dem unsere Kinder uns noch nicht widersprachen, jener Sommer, in dem wir die WM noch mit unseren Eltern kommentieren konnten“. Und natürlich: „Der Sommer, in dem wir Weltmeister waren.“
Was die nichtwidersprechenden Kinder angeht, habe ich eine besondere Erinnerung an das werbetechnisch als „Finale dahoam“ vermarktete Champions-League-Endspiel von 2012 zwischen dem FC Chelsea (Farbe: blau) und dem FC Bayern (Farbe: rot), dessen Sympathisant ich bin – was somit damals auf schön selbstverständliche Art auch mein Sohn war. „Ich weiß nicht, ob ich das aushalte“, hatte er die Spannung zu Beginn des Spiels beschrieben. Und so ging es mir auch. Als Chelsea nach zwei Stunden mit 4:3 nach Elfmeterschießen verdient gewonnen hatte, musste ich mit einer Hand die Tränen des 12-Jährigen trocknen und mit der anderen das Handy halten, auf dem mich eine SMS erreicht hatte: „München bleibt blau“, hieß es da vom Freund, taz-Kollegen und Anhänger des TSV 1860 München (Vereinsfarbe: blau) Andreas Rüttenauer triumphierend.
Das Finale 2012 wird immer jenes sein, als ich meinen kleinen Sohn tröstete, jenes, als ich noch jung genug war, um nach der Revanche zu gieren. Es wird immer der Sommer sein, in dem wir das „Finale dahoam“ verloren. Wenn es nun im Februar und März 2020 wieder gegen Chelsea geht, kann es gut sein, dass ich Besseres zu tun habe: Denn kein Sieg kann so schön sein, wie die Erinnerung an die Gefühle rund um die Niederlage von damals. Ambros Waibel
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