Stadtgespräch
Sophia Boddenberg aus Santiago de Chile
: Viraler Protest

El Violador Eres Tu“ – der Vergewaltiger bist du – rufen mehr als 10.000 schwarz gekleidete Frauen vor dem Estadio Nacional in Chiles Hauptstadt Santiago und zeigen mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf ihre Zuschauer. Es ist die bisher massivste Aufführung der Performance von „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg), die sich innerhalb der letzten Wochen in der ganzen Welt verbreitet hat. Buenos Aires, Mexiko-Stadt, Berlin, Paris und New York sind nur einige der Städte, in denen Frauen mit der feministischen Performance aus Chile auf Vergewaltigungen, Frauenmorde und Machtmissbrauch durch den Staat aufmerksam machen wollen.

Die 61-jährige Norma Villaroel ist mit ihrer Tochter zum Estadio Nacional gekommen. Sie hat die Pinochet-Diktatur (1973-1990) miterlebt und erinnert sich noch daran, dass in dem Fußballstadion Regimegegner gefoltert und getötet wurden. „Wir Frauen müssen dieses Land verändern. Wir wollen nicht mehr unter der Ordnung der Männer leben. Während der Diktatur wurden Frauen gefoltert und vergewaltigt und heute immer noch. Hier geht die Diktatur weiter“, sagt sie. In Chile lehnen die Menschen sich seit über sechs Wochen gegen die soziale Ungleichheit und das neoliberale Wirtschaftssystem auf. Die Regierung hat mit Gewalt und Repression auf die Proteste reagiert.

„El estado opresor es un macho violador“, heißt es in der Performance – der Unterdrückungsstaat ist ein Macho, der vergewaltigt. „Die Initiatorinnen der mittlerweile weltweit bekannten Aktion sind Dafne Valdés, Paula Cometa, Sibila Sotomayor und Lea Cáceres vom Kollektiv „Las Tesis“. Alle vier sind 31 Jahre alt und leben in der Hafenstadt Valparaíso. Dort haben sie die Performance am 20. November zum ersten Mal aufgeführt. Sie ist eigentlich Teil eines längeren Theaterstücks, an dem die vier Frauen seit Anfang des Jahres arbeiten. „Das Ziel unseres Kollektivs ist es, die Thesen feministischer Theorie durch visuelle und performative Formate in die Praxis zu übertragen“, sagt Paula Cometa. Alles, was sie sagt, stehe stellvertretend für das Kollektiv, darauf besteht sie.

Sie ist Designerin und studiert gerade Geschichte auf Lehramt. Valdés und Sotomayor haben Schauspiel studiert, und Cáceres ist Kostümdesignerin. „El violador en tu camino“ sei inspiriert von der argentinischen Anthropologin Rita Segato und der italienischen Feministin Silvia Federici. „Segato demystifizert den Vergewaltiger und zeigt, dass er aufgrund einer sozialen Machtstruktur vergewaltigt und nicht, um seine sexuelle Lust zu befriedigen. Die Vergewaltigung ist eine Strafe für die Frauen und sexuellen Minderheiten, die nicht der Norm entsprechen. Deshalb wird eine Frau vergewaltigt, die einen Minirock trägt, aber auch ein homosexueller Mann“, sagt sie.

„Es war nicht meine Schuld, egal wo ich war, egal wie ich angezogen war“, rufen die Frauen bei der Performance am Estadio Nacional. „Der Vergewaltiger bist du! Die Bullen! Die Richter! Der Staat! Der Präsident!“ Bei jedem Wort gehen sie in die Knie und nehmen die Hände hinter den Kopf. „Dieser Teil der Choreografie ist daran angelehnt, dass Frauen auf der Polizeiwache gezwungen werden, sich auszuziehen und Kniebeugen zu machen“, sagt die 29-jährige Francisca Echeverría, die mit ihren Freundinnen an der Performance teilnimmt.

Dass die Performance so viral gehen und binnen Tagen auf der ganzen Welt aufgeführt werden würde, hat niemand aus dem Kollektiv Las Tesis erwartet. „Wir haben ursprünglich nur eine Performance gestaltet, kein Protestlied. Die Frauen haben es dazu gemacht. Was passiert ist, geht weit über unser Kollektiv hinaus“, sagt Paula Cometa.

„Es gibt eine globale Krise und das hier ist erst der Anfang“, sagt Francisca Echeverría am Stadion in Santiago. Ihre Freundin Ignacia Navarrete fügt hinzu: „Kapitalismus und Patriarchat gibt es überall. Alle Staaten sind Machos, die vergewaltigen. Das vereint uns Frauen auf der ganzen Welt.“