Ulrich Schulte über die Grünen und die K-Frage
: Wer macht’s?

Robert Habeck oder Annalena Baerbock? Offiziell ist das kein Thema. Beide Grünen-ChefInnen schweigen zu einer möglichen Kanzlerkandidatur. Oder sie sagen die immer gleichen Sätze: Die Frage stehe nicht an, sie werde rechtzeitig vor der Bundestagswahl beantwortet, gemeinsam mit der Partei natürlich. Regulär wird ja erst in zwei Jahren gewählt. Aber Menschen haben ein Interesse daran, wer sie regiert. Und nun, da die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Grünen die Nach-Merkel-Ära mitgestalten, ist dieses Interesse berechtigt.

Eins ist sicher: Die Grünen werden auf jeden Fall eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten aufstellen, wenn die Umfragen so gut bleiben, wie sie im Moment sind. Habeck und Baerbock wollen die „führende Kraft der linken Mitte“ sein, die republikanischen Institutionen gegen den Angriff von rechts verteidigen und den Klimaschutz endlich ins Zentrum staatlichen Handelns rücken. Wo ginge das besser als im Kanzleramt? Wer die Dramatik des Klimawandels beschreibt, muss ihn an höchster Stelle stoppen.

Für eine grüne Kanzlerkandidatur gibt es, grob gesagt, zwei Szenarien. Das erste: Beide möchten den Job und keiner ist bereit, zurückzuziehen. Baerbock und Habeck vertrauen und schätzen einander. Die Harmonie ist nicht gespielt. Ein solcher Wettbewerb würde deshalb fair und offen ausgetragen werden. Das letzte Wort hätte ein Bundesparteitag – oder eine Urwahl, bei der alle Mitglieder befragt werden. Mit diesem Instrument klärten die Grünen bei vergangenen Wahlen ihre Spitzenkandidaturen.

Auf einem Parteitag hätte Baerbock gute Chancen zu gewinnen. Ihr Rückhalt ist bei der Basis größer als der Habecks. Sie gilt als sehr kompetente, exzellent vorbereitete Verhandlerin, die offen für andere Meinungen bleibt. Wie enorm ihr Standing ist, zeigt auch ihr Rekordergebnis bei der Vorstandswahl in Bielefeld. Mit 97,1 Prozent ließ sie Habeck (90,4 Prozent) hinter sich.

Bei einer Urwahl sähe es anders aus. Die 94.000 Mitglieder ticken anders als der Parteimittelbau, der sich auf Bundesdelegiertenversammlungen trifft. Habeck ist deutlich prominenter als Baerbock – und einer der beliebtesten deutschen Spitzenpolitiker. Seine Stärke ist die Verkaufe, die Erzählung. Kaum einer kann Politik so philosophisch aufladen wie er. Anders als Baerbock verfügt er über Regierungs­erfahrung, weil er in Schleswig-Holstein sechs Jahre lang Minister für Umwelt, Landwirtschaft und Energiewende war. Kurz: Normale Grünen-Mitglieder, die sich nicht permanent mit Politik beschäftigen, könnten ihm den Vorzug geben. Selbst Habeck-KritikerInnen analysieren die Lage ähnlich. Eine Abgeordnete, die Baerbock bevorzugen würde, drückt ihr Dilemma so aus: „Robert wäre der bessere Kanzlerkandidat. Aber Annalena die bessere Kanzlerin.“

Ein solcher Wettbewerb, egal wie fair er geführt würde, wird problematisch eingeschätzt. Schließlich wäre Schluss mit der Harmonie, auf die der ganze Erfolg gründet. Kein schöner Start für einen Wahlkampf, der ohnehin brutal wird. Habeck hat seine Partei in seiner Bewerbungsrede nicht ohne Grund gewarnt. Die Grünen werden bis 2021 unter das Brennglas gelegt.

All das wissen natürlich auch Baerbock und Habeck. Wahrscheinlicher ist deshalb das zweite Szenario, die gütliche Lösung. Beide einigen sich, wer die Kanzlerkandidatur übernimmt. Baerbock würde also Habeck unter vier Augen sagen, dass sie ihm den Vortritt lässt. Rechtzeitig vor dem Parteitag Ende 2020 erschiene ein Doppel-Interview, in dem beide die Entscheidung begründen. Die Delegierten des Parteitags müssten dies nur noch bestätigen. Selbstverständlich ginge es auch andersherum. Auch Habeck könnte Baer­bock den Vortritt lassen. Aber was ist wahrscheinlicher?

In der Parteilogik müsste Baerbock antreten. Die Grünen, die stolz auf ihre feministische Tradition sind, schieben bewusst Frauen nach vorn. Warum sollten ausgerechnet sie einen Mann ins Kanzleramt schicken? Aber Baerbock und Habeck pfeifen auf grüne Parteilogik, sie geben nichts auf Flügelrituale, auf Selbstvergewisserung oder sorgsame Klientelpflege. Stattdessen zielen sie auf Mehrheitsfähigkeit, auf Milieus jenseits der eigenen. Sie denken aus dem Zentrum heraus. Dies führt zu einem einfachen, kalten Gedanken. Jenem, der auch dem Basismitglied bei einer Urwahl durch den Kopf gehen könnte: Kanzlerkandidat wird der, der die größten Chancen hat. Das ist, gemessen an Umfragen, Robert Habeck.

Die Grünen könnten demnach im nächsten Jahr eine Lösung für die K-Frage präsentieren, die reich an vermeintlichen Widersprüchen ist: Die Chefin einer feministischen Partei schlägt einen Mann für den Topjob vor – obwohl sie mindestens genauso gut geeignet wäre.

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