: Aras Örens Spekulative Empirie
Der Berliner Verbrecher Verlag hat drei großartige Poeme über das Leben in Kreuzberg nun als „Berliner Trilogie“ neu aufgelegt
Von Helmut Höge
Der in Istanbul geborene und 1969 nach Westberlin gezogene Schriftsteller Aras Ören wurde gerade achtzig. Der Westberliner Verbrecher Verlag hat dieserhalb seine drei Langpoeme über das hiesige Gastarbeiter-Leben der Türken unter dem Titel „Berliner Trilogie“ veröffentlicht. Sie entstanden zwischen 1973 und 1980. Das erste, „Was will Niyazi in der Naunynstrasse“, machte den Autor sogleich berühmt.
Die meisten der nach Berlin gezogenen Türken und Kurden waren Arbeiter und Bauern, viele kommunistisch orientiert. Ein Funktionär der IG Metall meinte 1992: „Die besten türkischen Betriebsräte waren früher alles maoistische Kurden.“ Zu ihren Konflikten zählten Auseinandersetzungen mit den rechtsextremen Grauen Wölfen (1980 ermordeten diese den kommunistischen Lehrer Celalettin Kesim), und die Möglichkeit, aus den betrieblichen Wohnheimen auszuziehen, eigene Wohnungen zu beziehen und Familienangehörige nachkommen zu lassen, was der Bezirk Kreuzberg mit einer „Zuzugsperre“ verhinderte. Für Westberlin-Touristen war jedoch gerade die „Kreuzberger Mischung“ aus Türken und Punks lange Zeit ein „Must-see“ (New York Times).
Nach der sogenannten Wiedervereinigung verloren vor allem türkische Arbeiter ihre Jobs. Wenn ihre Westberliner Betriebe nicht geschlossen wurden, dann nahmen diese besser qualifizierte Arbeitskräfte aus Ostberlin. Bei Osram arbeiteten sogar DDR-Ingenieure am Band. Gezwungenermaßen machten sich daraufhin nicht wenige Türken mit einem Geschäft selbständig, was in einigen Arbeiterbezirken zu einem Überangebot an Dönerbuden, Friseurläden und Spätis führte.
Als Aras Örens Working-Class-Hero Niyazi sich in Berlin einlebte, gab es in vielen Bezirken in den Souterrainräumen der alten Bürgerhäuser kommunistische türkische Arbeiterklubs. Einen Arbeiterklub, in dem noch eine Lenin-Statue steht, gibt es noch heute – im Mehringhof. In den von vielen abfällig als „Türkenklubs“ bezeichneten Räumen wurde Tee getrunken, geraucht und diskutiert. Abgelöst wurden sie zunächst durch Fußballvereine, wo man stumm Karten spielte. Die Buchläden intellektueller Türken in Westberlin lebten nicht lange. Zuletzt hat es der Besitzer des Kiosks am Kottbusser Tor noch einmal versucht.
Die als AEG-Arbeiterin 1965 nach Westberlin gekommene Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar erzählt in einem ihrer ebenfalls autobiografischen Berlin-Romane von den türkischen Arbeiterklubs und ihrem Wunsch, an deren Männergesprächen teilzunehmen. Sie hielt sich gerne am Steinplatz auf, eines der Zentren der Studentenbewegung an der TU-Mensa, während es Aras Ören eher zu den Künstlern am Savignyplatz zog. Er wurde dann SFB-Redakteur und 1996 Leiter der türkischen Redaktion. Eines seiner Bücher handelt von den Begegnungen dort: „Berlin Savignyplatz“ (1995), gewidmet ist es den Lebenskünstlern Bernd Fahr und Oskar Huth, die damals fast täglich im Zwiebelfisch verkehrten. Ebenso der Dichter Johannes Schenk, der Aras Örens erstes Niyazi-Poem bearbeitete.
Schenk gründete damals mit der Malerin Natascha Ungeheuer das Kreuzberger Strassentheater, das u. a. die Diskriminierung und Drangsal der dort lebenden Türken thematisierte. Sie wurden z. B. nicht in Diskotheken reingelassen und durften außer auf dem Bau nur in Industriebetrieben arbeiten. In der „Berliner Trilogie“ sieht Niyazi diesem Kreuzberger Straßentheater zu.
Aras Ören schrieb auf Türkisch – und ließ seine Texte dann übersetzen, während Özdamar gleich in ihrer ersten, preisgekrönten Erzählung 1990 eine eigene deutsche Sprache entwickelte. Sie wohnte später nebenbei bemerkt in einer Frauen-WG im Wedding und arbeitete am Berliner Ensemble.
Örens Arbeiter Niyazi Gümüşkılıç, 47 Jahre alt, ist seit 7 Jahren als Stanzer bei der Preussag beschäftigt, mal in Tag- und mal in Nachtschicht, kann gut Deutsch, übersetzt und schreibt gelegentlich Briefe für Kollegen, verdient 1.140 DM monatlich und zahlt 74 DM Miete, für zwei Zimmer mit Küche und Etagenklo, hat eine Freundin, Atifet, die bei Siemens arbeitet und am Ende der Naunynstrasse wohnt. Der „Straße der schweigenden Menschen“. Die beiden gehen eingehakt zu einer Demonstration am Kotti. Niyazi hat einen Schrank voller Anzüge und ein Auto. Nachbar Salim wäscht sein Auto sonntags an der Straßenpumpe. Neben Atifet porträtierte Aras Ören noch etliche andere Bewohner der „Naunyn“, auch deutsche, mit ihren Hoffnungen, Wünschen und Sorgen, ihren Irrungen und Wirrungen. Z. B. „die schicke Suna,“ die in einer Kreuzberger Telefonfabrik arbeitet und sich bei ihrem Verlobten, dem Lehrer Ziya, über die unzivilisierten Weiber im Wohnheim beklagt. Einige der „Naunyn“-Schicksalsgenossen werden von Niyazi klassenkämpferisch aufgeklärt. Wenn nicht die „Berliner Trilogie“ überhaupt ein einziges brechtsches Agitationspoem ist. Einmal sollte Niyazi im „Sozialisten-Verband der Naunynstrasse“ einen Vortrag halten, aber dann traute er sich doch nicht.
Die türkische Ärztin Emy Cohn schrieb ihre Doktorarbeit über das „Dezentrierungs-Syndrom“ der Türken in Deutschland, das buchstäblich ihren Bauchnabel aus dem Lot bringt. Die Ursachen sind Rassismus, Überarbeitung, Isolation, Heimweh … „Auf der einen Seite: geschichtliches Erbe. Auf der anderen Seite: persönliches Schicksal, zwischen beidem: roh zubehauenes Bewusstsein“, so sieht es Aras Ören im Epilog.
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