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Worte genügen

Der Vergewaltiger von Chanel Miller bekam in den USA ein skandalös mildes Urteil. Mit ihrem Buch „Ich habe einen Namen“ erobert sich Miller nicht nur ihre Geschichte zurück, sie findet auch zu ihrer Stimme. Und setzt sich mit dem Opferbild auseinander

Von Marlen Hobrack

Liest man von schrecklichen Verbrechen, so fügen sich die Details im Kopf zu einer Horrorgeschichte. Man möchte sich ja gar nicht vorstellen, wie es für Überlebende oder Angehörige ist, mit den Folgen des Verbrechens weiterleben zu müssen. Es wird nicht leichter, wenn ein Verbrechen medienwirksam wird. Wenn ein Fall vor Gericht nicht mehr nur verhandelt werden muss, sondern plötzlich zum Symbol wird. Zum Beispiel dafür, dass das Justizsystem nicht immer blind und unabhängig von Hautfarbe entscheidet.

All das gilt für den Fall der Emilie Doe alias Chanel Miller. Miller wird zu Doe, als ihr Vergewaltigungsfall zunächst vor Gericht geht, um dann einen US-weiten Streit über ein vermeintlich zu lasches Urteil und die Privilegien junger weißer Männer auszulösen und sie anonym bleiben will. Miller wird zu Doe, nachdem das vielversprechende Schwimmtalent Brock Turner die bewusstlose junge Frau hinter einer Mülltonne vergewaltigt. Mit diesem Satz beginnt die Problemkonstellation: Warum wurde die junge Frau bewusstlos? Warum trank sie bis zum Filmriss? Wie gelangte sie von der Party, die sie mit ihrer Schwester besuchte, hinter die Mülltonne? Trägt sie mit ihrem „verantwortungslosen“ Verhalten etwa Mitschuld? All diese Fragen wurden online und vor Gericht hundertfach, ja tausendfach gestellt. Sie sind klassisches Element des Derailings, des Versuchs also, eine Debatte entgleisen zu lassen. Denn eigentlich ist der Fall glasklar: Turner wird auf frischer Tat ertappt. Er wird von der Schwester des Opfers auf Anhieb als Partygast, der sich ihr zudringlich und gegen ihren Willen genähert hat, identifiziert. DNS-Spuren des Opfers finden sich an den Fingern Turners; das Opfer weist Hämatome am ganzen Körper auf. Und dass eine bewusstlose Frau zu keiner sexuellen Handlung zustimmen kann, dürfte einleuchten.

Umso schockierender wirkt das Urteil auf viele Amerikaner: Turner erhält eine sechsmonatige Gefängnisstrafe. Der junge Mann, der noch am Tattag gegen eine Kaution von 150.000 Dollar wieder auf freien Fuß gelangte, musste sich zusätzlich als Sexualstraftäter registrieren lassen. Eigentlich liegt die Mindeststrafe für Turners Vergehen bei zwei Jahren. Ob der Brief des Vaters an den Richter, in dem er denselben anfleht, er möge in „20 minutes of action“ nicht die nächsten zwanzig Jahre des Lebens seines Sohnes ruinieren lassen, Einfluss auf die Entscheidung hatte?

Empörend ist nicht nur die Vorstellung einer Beeinflussung der Justiz. Empörend ist auch die Formulierung, die aus einer Vergewaltigung eine zwanzig minütige Handlung machen – wie zu langes Zähneputzen.

Chanel Miller: „Ich habe einen Namen“. A. d. Engl. von Y. Dinçer, H. Meyer, C. Rodewald, Ullstein Verlag, Berlin 2019, 480 Seiten, 20 Euro

Auch Emilie Doe meldete sich mit einem Brief zu Wort. Er wird vor Gericht verlesen und danach online publiziert; inzwischen wurde der Text millionenfach geklickt. Doe hat eine Stimme. Doch der Brief ist nur der Anfang. Inzwischen hat Miller ein Buch geschrieben: „Ich habe einen Namen“. Diesmal nennt sie ihn auch. Der Leser wird Zeuge, wie Miller ihre Geschichte zurückerobert. Aber sie erzählt nicht nur in eigenen Worten; sie stellt auch die gesellschaftlichen Erwartungen an Opfer infrage.

Unser Opferbild sieht vor, dass es ein lebenslanges Trauma mit sich herumschleppt. Dass es nie wieder froh wird. Auch Miller wird mit diesen Erwartungen konfrontiert. Sie versteht, dass sie mit Beginn des Prozesses unter Beobachtung steht. Darf sie Partybilder posten? Darf sie lächeln, tanzen, feiern? Sie führen zu problematischeren Fragen: Warum ist das Verhalten des Opfers überhaupt relevant? Warum gilt der Fokus nicht dem Täterverhalten? Warum muss Miller in Verhören intime Details über die Beziehung offenbaren? Die Antwort ist einfach: Weil Vergewaltigung ein „gegendertes“ Verbrechen ist, wie Mithu ­San­yal es nennt. Weil es in unserer Vorstellung ein Verbrechen ist, das Männer an Frauen begehen. In diese Täter-Opfer-Kon­stellation schreiben sich alle gesellschaftlichen Vorstellungen zum „richtigen“ Sexualverhalten, über „gutes“ Begehren sowie Ehre und Anstand ein. Als Opfer muss sich Miller davon freimachen, um nicht an der Beurteilung durch Öffentlichkeit und Justiz zu zerbrechen.

Ihr Verlagsbild zeigt eine strahlende junge Frau. Keine Spur eines gebrochenen Opfers. Das Buch selbst erzählt, psychologisch dicht und in eindringlichen Bildern, von der erlebten Traumatisierung und deren Verarbeitung. Dass Schreiben eine Form der Traumaverarbeitung sein kann, ist nicht neu. Allerdings spürt man, dass in ­Miller schon immer eine Autorin steckte, eine, die hier – so tragisch es ist – ihr Thema gefunden hat. Damit tritt Miller in die Fußstapfen der Mutter, ihrerseits chinesische Erfolgsautorin.

Mit der Herkunft der Mutter kommen auch die Themen Hautfarbe und soziale Zugehörigkeit ins Spiel. Natürlich hat der Fall auch mit weißen Mittelschichtsprivilegien zu tun. Hätte ein schwarzer Täter ein ähnlich mildes Urteil erwarten dürfen? Hätte ein Täter sozial schwacher Herkunft eine sechsstellige Kaution aufbringen können? Zugleich darf man annehmen, dass Miller als Opfer immer noch mehr Empathie erfuhr, als es bei einem schwarzen Opfer der Fall gewesen wäre. Ob eine schwarze junge Frau aus diesem Verbrechen als Autorin hervorgegangen wäre?

Darf sie Party­bilder posten? Darf sie lächeln, tanzen, feiern?

„Mir war, als wäre mein Hals voller Dämmstoff, meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Dennoch hörte ich jedes meiner Worte in den stummen Raum fallen, wo es von Dutzenden Augen und Ohren verschlungen wurde“, schreibt Miller.

Das Finden einer Stimme ist ein uraltes Bild für die Verarbeitung eines Vergewaltigungstraumas. Der griechische Mythos kennt die Geschichte der Philomela, der ihre Zunge rausgeschnitten wird, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie aber webt ihre Worte in ein Gewand, um sich ihrer Schwester Prokne mitzuteilen. Sie hilft ihr bei der Rache an ihrem Vergewaltiger Tereus. Ihre Rache – die Tötung des gemeinsamen Sohnes – ist eine Rache an der männlichen Ordnung.

Miller zeigt, dass Worte genügen, um männliche Privilegien in Frage zu stellen. Gerechtigkeit tritt so an die Stelle der Rache. Dafür bedarf es der richtigen Worte. Und eines Namens.

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