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Ostfriesische Stille

Wenn die warmen Monate vorbei sind, wird es auf der ostfriesischen Insel Juist erst richtig idyllisch. Eine Reise in den Wintermonaten verspricht vor allem eins: Ruhe. Nur die Wetterlage kann die An- und Abreise mit der Fähre erschweren

Von Juist Jan Freitag

Was heutzutage ein Zustand wahrer Stille ist und was bloß Abwesenheit von Lärm, darüber herrscht zwar Uneinigkeit in der Selbstoptimierungsgesellschaft, oft aber entspringt die Suche nach Ruhe dem tiefen Bedürfnis, einen mehr oder weniger kurzen Moment mal ganz bei sich, für sich zu sein. Während die einen dafür meditativ ins Innere vordringen, sehnen sich andere in eine Wildnis, die hierzulande leider längst so selten ist, dass sie doch ein Flugzeug besteigen, um am Strand ferner Reiseziele die Seele baumeln zu lassen, wie es im Werbesprech der Fernreisezielbranche heißt. Es ist ein Dilemma.

Da ersteres jedoch für viele zu esoterisch ist und letzteres zu dreckig, müssen Menschen auf Abstandssuche vom Alltagsstress eigentlich nur in die Nähe schweifen. Genauer: auf die Ostfriesischen Inseln. Noch genauer: nach Juist.

Das längste Eiland der Perlenkette im Wattenmeer, an der schmalsten Stelle kaum breiter als eine Stadionrunde, ist sogar zu Stoßzeiten am Rande des Dämmerschlafs sediert – sofern man das von einem Ferienort behaupten kann, der seine Bevölkerung an gut besuchten Tagen vervierfacht und in nahezu jedem Haus Fremdenzimmer, wie sie dort noch genannt werden, bereithält. Entscheidend ist also selbst auf Juist die Zeitplanung. Auch im Juli kommt man dort wohl zur Besinnung. Denn es gibt dort keinerlei Kraftfahrzeuge, weshalb der Verkehr fast vollständig auf Pferdekutschen verlagert ist. Es gibt abgesehen von Landmarken wie dem alten Wasserturm auch keine höheren Gebäude, weshalb von fast jedem Punkt aus freie Sicht herrscht. Stattdessen gibt es unfassbar viel Gras und Sand und Schilf und Wind und Wasser. Das macht die Insel im Sommer zu einem der erfrischendsten Orte Europas.

So richtig, also wirklich richtig idyllisch wird er aber erst, wenn aus erfrischend nasskalt wird und aus der vierfachen Einwohnerzahl annähernd die einfache: Im Januar, wenn die letzten Silvestergäste abreisen und das beginnt, was zumindest nördlich der Alpen Nebensaison heißt. Auf Juist klänge selbst das übertrieben. Besser wäre Nichtsaison, eine Art Negation touristischer Nutzung, von der praktisch die gesamte Bevölkerung des Archipels lebt. Um die völlige Ereignislosigkeit von Juist zu erspüren, muss man nur eine der Fähren kriegen, die ganzjährig ein- bis zweimal täglich aus Norddeich Mole anlanden. Theoretisch. Bei schlechtem Wetter nämlich fällt schon mal einer der knapp achtzigminütigen Transfers aus. Und wenn ein bissiger Ostwind das südseitige Watt gegenüber der rauen Nordsee selbst bei Flut nahezu trockenlegt, drohen sie auch auszufallen. Dann kann es passieren, dass Pensionen, Hotels und Ferienwohnungen mit durchgängigem Winterdienst Nahrungsmittel, nun ja, nicht gerade rationieren, aber mit etwas mehr Bedacht auftischen.

Aber das ist es wert. Denn wer an der Mole nach aufgewühlter Anfahrt wieder Land unter den Füßen spürt, hört plötzlich – nichts. Nichts bis auf Schwaden kreischender Möwen im stürmischen Wind, die 17 Kilometer feinsten Sandstrand ab Mitte Januar für sich allein haben. Gut, ein paar unerschütterliche Stammgäste, die auch in Stoßzeiten Dreiviertel der Zimmer belegen, spazieren bei zackigen null Grad noch durch vereinsamte Straßen. Darüber hinaus aber sind jene 1.500 Einwohner, die nicht ihrerseits das Weite ins Warme gesucht haben, weitgehend unter ihresgleichen. Das imposante Kurhotel pausiert ebenso wie fast jede Ablenkung vom reinen Naturerlebnis: Kino, Erlebnisbad, Souvenirläden, Restaurants – die Infrastruktur macht bis in den März, wenn die Fähren wieder Tausende Menschen ins Weltkulturerbe spülen, größtenteils Inventur. Und das spürt man. In den Augen, den Ohren, selbst der Nase. Es riecht seltsam, auf dem winterlichen Juist. Seltsam nach wenig außer Wattenmeer. Sogar der Hammersee, den die verheerende Petriflut vor fast 400 Jahren ins Dünenland getrieben hat, verströmt Salzgeruch über dem Süßwasser.

Und während sich selbst im Sommer auf 15 Quadratkilometern Fläche zu jeder Zeit ein Fleckchen unverstellter Einsamkeit findet, mündet das Gefühl absoluter Abgeschiedenheit im Winter in der Illusion, tatsächlich allein mit sich und den Gedanken zu sein. Ein Erlebnis, für das die Reise sonst weiter gehen müsste.

Auf den Ostfriesischen Inseln hingegen herrscht, bis auf Norderney und Borkum, wo Autos und alle Fähren fahren, eine Sendepause, von der Großstadtmenschen höchstens bei geschlossenem Fenster träumen können. Daran ändert auch das seltene Hufgeklapper unterm Hotelfenster wenig, im Gegenteil: Es verleiht dem Töwerland, wie die Zauberinsel im plattdeutschen Volksmund heißt, ein nostalgisches Flair, das einzigartig ist, und machen wir uns nichts vor: schwer bedroht.

Juist

Anfahrt

Mit dem Zug bis Norddeich Mole, von dort weiter mit der Fähre. Im Winter ein- bis zweimal täglich jeweils nach und von Juist. Hin- und Rückfahrt für Erwachsene 35 Euro, Kinder von 6 bis 13 Jahren 17,50 Euro.

Informationen

www.juist.de

www.ostfriesland.de

www.reederei-frisia.de

Denn gegen das stetig steigende Meer sind auch die sieben bewohnten der zwölf Inseln und Sandbänke nicht zu schützen. Heiße Sommer und milde Winter im golfstromgeprägten Klima kündigen die absehbare Endlichkeit der ostfriesischen Küste bereits an. Weil sich das Wattenmeer nicht eindeichen lässt, ohne es zu zerstören, sind die Tage der Eselsbrücke „Welcher Seemann Liegt Bei Nacht Im Bett?“, mit denen sich Schulkinder einst die Namen von Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog, Baltrum, Norderney, Juist und Borkum eingeprägt haben, demnach gezählt. Bis dahin aber ist Juist mehr noch als ihre Nachbarinnen ein Refugium ganzheitlicher Tiefenentspannung, für das man ansonsten die Atmosphäre nur weiter mit Kohlenstoff belasten müsste, um überhaupt dorthin zu gelangen.

Sofern man nicht die Propellermaschine vom Festland nimmt, ist Juist dagegen selbst von Bayern aus leicht, schnell und sauber zu erreichen. Für ein paar Wintertage in der Stille. Solange es noch geht.

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