Stadtgespräch
Daniel Zylbersztajn aus London
: Der Wahlkampf in Großbritannien beginnt turbulent und wirft ein Schlaglicht auf manch Londoner Gemeinde – ganz abseits vom Brexit

Was für ein Wahlkampfauftakt in Großbritannien: „Ich glaube, wenn einer von uns in einem Feuer wäre, würden wir, egal was die Feuerwehr sagt, aus dem brennenden Gebäude laufen“, erklärte das konservative Kabinettsmitglied Jacob Rees-Mogg zu der Brandkatastrophe im Grenfell Tower im Londoner Stadtteil North Kensington. Damit löste der skurrile Brexiteer Rees-Mogg kurz vor Beginn der heißen Phase vor den Neuwahlen am 12. Dezember erst einmal einen Shitstorm gegen sich und seine Partei aus.

Denn Rees-Mogg bezog sich da­rauf, dass viele der 72 im Grenfell Tower Umgekommenen den Anweisungen der Feuerwehr gefolgt waren und in ihren Wohnungen ausharrten, statt zu flüchten. Dem Londoner Rapper Stormzy, der sich oft für die Grenfell-Gemeinde einsetzt, war das genug, um Rees-Moggs Rücktritt zu fordern, weil diesem „das Mindestniveau an Menschlichkeit und Verständnis“ fehle.

Nachdem sich Überlebende der Katastrophe beschwert hatten, entschuldigte sich Rees-Mogg. Sein Parteifreund Andrew Bridgen glaubte hingegen weiter, er müsse Rees-Mogg bei der BBC als „schlauen Mann“ bezeichnen – schlauer wohl als die viel zu Dummen, die nicht mal ihr eigenes Leben hatten retten können, so verstanden es viele.

Viele Londoner*innen waren empört. Doch im Grunde war Rees-Moggs Kommentar ein Geschenk an die Labour-Abgeordnete Emma Dent Coad. Sie hatte den betreffenden Wahlkreis Kensington 2017 mit knapper Mehrheit zum ersten Mal für Labour gewonnen – und ist auch diesmal auf jede Stimme angewiesen. Rees-Moggs Verhalten passt zur in North Kensington weitverbreiteten Ansicht, dass den konservativen Tories nicht viel an der Gemeinde liege, dir großenteils aus Ar­bei­ter*In­nen und Einwander*innen besteht.

Es ist nicht die einzige Londoner Gemeinde, deren Anliegen bei diesen Wahlen plötzlich einen erhöhten Grad natio­naler Wichtigkeit erlangt haben – trotz des Ewigthemas Brexit. So leben in London zwei Drittel der insgesamt etwa 270.000 britischen Juden und ­Jüdinnen. In Hendon sowie Finch­ley & Golders Green, Wahlkreisen mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil, gewannen bis 2010 jahrzehntelang nur Labour-Abgeordnete.

Doch Labour hatte jahrelang die Einwände bezüglich des zunehmenden Antisemitismus innerhalb der Partei und bei ihrem Chef Jeremy Corbyn beiseitegeschoben. Von einer wachsenden Ablehnung der Labour-Partei seitens der jüdischen Mehrheit profitierten nun die Konservativen.

Die Ergebnisse der britischen Gleichberechtigungs- und Menschenrechtskommission zur Frage, ob die Partei tatsächlich institutionell antisemitisch ist, stehen noch aus. In der jüdischen Gemeinschaft ist Corbyn jedoch weiter Hauptthema. So ist der aktuelle Titel des Jewish Chronicle eine echte Klatsche: Die Wochenzeitung schrieb auf der Seite 1, ein Sieg Labours bei den Wahlen bedeute, dass dem britischen Volk das Unbehagen der jüdischen Gemeinschaft egal sei. Erschwerend für Labour kam hinzu, dass Ende dieser Woche gleich zwei Labour-PolitikerInnen nach Antisemitismusvorwürfen von ihrer Kandidatur zurücktraten.

Die Rücktritte schmälerten die Wirkung der Gegenattacke des Labour-Abgeordneten John McDonnell. Der hatte seine Partei nach dem Erscheinen des Jewish Chronicle verteidigt und den Konservativen Vorwürfe gemacht: „Wir tun alles, was wir können, während die Tories einen Parteiführer haben, der in journalistischen Berichten Aussagen machte, die rassistisch sind.“ Tatsächlich gibt es bereits seit einiger Zeit Kritik und Fragen zu islamfeindlichen Einstellungen innerhalb der Tory-Partei.

Solche Anschuldigungen verunsichern die Wähler*innen noch mehr. Kein Wunder also, dass der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan besorgt ist, ob die Leute überhaupt noch wählen. „Wenn du nicht wählst, dann hast du keine Stimme“, appellierte er an die Bür­ge­r*in­nen. „Bitte registriert euch, bevor es zu spät ist.“ Zu spät ist es teils eh schon: Dass viele junge EU-freundliche Londoner*Innen ihre Stimme nicht abgaben, galt als ein Grund für den Ausgang des Brexit-Referendums.