piwik no script img

„Ich war nie das Volk“

Tupoka Ogette wurde 1980 in Leipzig geboren. Als sie acht Jahre alt war, reiste ihre Mutter mit ihr nach Westberlin aus. Ein Gespräch über verschiedene Identitäten und fehlende Worte

Interview Jasmin Kalarickal und Daniel Schulz

taz am wochenende: Frau Ogette, sprechen Sie von sich selbst als Ostdeutsche?

Tupoka Ogette: Eigentlich nie. Für mich ist das Ostdeutsch-Sein etwas, was ich in bestimmten Situationen raushole. Wenn ich als Anti-Rassismus-Trainerin im Osten unterwegs bin, kann ich damit eine Verbindung herstellen. Ich kann sagen: „Ihr kennt doch Diskriminierung, und so ähnlich fühlt es sich für Schwarze Menschen an, rassistisch behandelt zu werden.“

Ist es eine von mehreren möglichen Identitäten für Sie?

Auf jeden Fall! Für meine Mutter, die weiße Deutsche ist und mit mir 1988 ausgewandert ist, war das oft Thema. Sie musste sich fragen: Oute ich mich? Hat das Nachteile? Wie werde ich gelesen? Als Regimekritische oder als Teil der Stasi? Bei mir hat das Schwarz-Sein das Ostdeutsch-Sein immer überlagert.

Wie war es für Sie als Kind, nach Westberlin zu kommen?

Meine Mutter hatte einen Ausreiseantrag gestellt und es war nicht klar, wann der genehmigt wird. Also haben sie mir davon nichts erzählt. Ich bin irgendwann von der Schule gekommen und dann hieß es plötzlich: „So, pack jetzt deine Sachen, wir gehen.“ Ich musste alles hinter mir lassen.

Wohin ist Ihre Mutter mit Ihnen gegangen?

Zu ihrer Freundin in ein besetztes Haus. Von einer Ost-Idylle mit Großmutter und geregelten Essenszeiten in die Hausbesetzerszene: für mich war das so ein Schock, dass ich ein Jahr lang nicht mehr gesprochen habe. Was mir die Sprache verschlagen hat, war Berlin, diese Riesenstadt. Da waren Punks, Hundescheiße, Kreuzberg und Drogen. Da wusste ich nicht, was ich dazu sagen soll. Meine Mutter musste arbeiten, es gab keinen Hort, ich war viel allein.

Waren Sie in der DDR weniger allein?

In einem Workshop sollte ich ein Wort benennen, das meine Kindheit beschreibt. Ich sagte: „Einsamkeit“. Meine Familie hat mich sehr geliebt. Aber außerhalb der Familie habe ich im Osten krasse Erfahrungen mit dem Schwarz-Sein gemacht. Ich wurde ständig geandert, also als die Andere, die Fremde, gekennzeichnet, die Lehrerin hat mich mit dem N-Wort beschimpft, ich wurde als chinesischer Rotarschaffe durch die Straßen gejagt. Wenn ich das thematisiert habe, wurde es relativiert, aus Angst.

Wer hatte Angst?

Das ist so eine Reaktion von Erwachsenen: Oh Gott, was erlebt das Kind? Das können wir nicht einordnen, also sagen wir, das ist nicht so schlimm. Oder: Hast du dich nicht verhört? Im Westen blieb die Einsamkeit Thema, weil ich da tatsächlich oft alleine war. Im türkisch geprägten Kreuzberg hatte ich ein Gefühl der Nähe, aber gleichzeitig dachte ich: die haben schon sich. Heute kann ich das ausdrücken: Die hatten gleiche Codes, Sprachen und kulturelle Bezüge. Ich wollte damals auch gern türkisch sprechen und habe mir manchmal Handtücher über den Kopf gelegt.

Gab es das Wort Rassismus in der DDR?

In meiner Kindheit nicht. Das Wort Rassismus habe ich kennengelernt, als ich in einer Berliner Bibliothek Bücher über die Apartheid in Südafrika gelesen habe. Richtig politisiert wurde ich an der Universität in Leipzig, wo ich Afrikanistik studiert habe. Dort bin ich mit anderen Schwarzen Menschen zum ersten Mal auf ein Afro-Treffen gegangen. Das Wort Rassismus habe ich davor nicht auf mich übertragen.

Und wie haben Sie sich als Kind erklärt, was mit Ihnen passiert ist?

Ich war überzeugt, dass ich zu wehleidig bin. Ich hatte starke Neurodermitis, ich habe viel gekränkelt, ich dachte, ich habe zu viele Gefühle.

Wie war das für Sie, kein Wort für Rassismus zu haben?

Wir sind mal mit der Schulklasse durch einen Wald gelaufen und die Lehrerin hat uns erzählt, dass schwarze Männer am Rande des Weges sitzen und Kinder fangen. Wahrscheinlich, damit wir nicht in den Wald rennen. Es war gruselig, ich bin zusammengezuckt und sie hat gesagt: „Boah, guck mal, haha, der N., der erschreckt sich.“

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe das Gefühl gehabt, mit mir ist etwas nicht okay. Wieso bin ich die Einzige, die sich erschreckt? Für mich war es eine Befreiung, dieses Wort „Rassismus“ kennenzulernen, mit Anfang 20. Und zugleich hat das in mir voll die Wut losgetreten.

Tupoka Ogette arbeitet als Expertin für Vielfalt und Antidiskriminierung. Sie leitet Trainings, Workshops und Seminare zu Rassismus Foto: Anja Weber

Konnten Sie in der DDR mit niemandem darüber sprechen?

Mein Vater war Student aus Tansania, er musste das Land wieder verlassen. Aber ich habe meiner Mutter Sachen erzählt. Gleichzeitig wollte ich sie schützen, ich wollte nicht, dass sie traurig wird. Das machen Kinder oft, gerade wenn sie alleine mit ihrer Mama sind. Es war nicht das mangelnde Vertrauen. Es gab krasse Szenen, wo sie dabei war, da war sie im Kampfmodus. Aber ich wollte nicht, dass sie sich in Gefahr begibt. Ich habe ihr und meiner Großmutter vieles erst in den letzten Jahren erzählt.

Wie ist Ihre Großmutter mit Ihren rassistischen Erfahrungen umgegangen?

Sie liebt mich über alles. Aber ihre Strategie war, zu schweigen. Sie sagt heute: „Ich wollte das nicht so groß machen.“

Wie hat sich das konkret geäußert?

Wenn ich erzählte, dass ein Vater auf dem Spielplatz zu mir gesagt hatte: „Du stinkst wie ein N.“, hat sie zu mir gesagt: „Du hast dich sicher verhört.“ Sie meinte es gut, fühlte sich einfach ohnmächtig. Aber für mich war der Effekt: Mit mir ist etwas komisch. Oder ich habe mich verhört. Ich habe angefangen, an mir zu zweifeln.

Sind Menschen im Osten direkter und brutaler beim Verwenden des N-Wortes?

Der Begriff wird in Ostdeutschland ritualisierter und normalisierter benutzt. Nicht immer mit der Intention, zu verletzen, anders als im Westen. Da wurde das eher bewusst eingesetzt, um mich zu entwürdigen. So habe ich das wahrgenommen.

Hat Ihnen die beschworene Solidarität mit den afrikanischen Bruderstaaten in der DDR geholfen?

Mein Vater war Teil dieser afrikanischen Eliten. Es war klar, wo der Bruder hingehört, wer oben ist und wer unten. Es war auch klar, dass das politische Indoktrination ist. Mein Vater hat immer gesagt, er ist Schwarz und nicht rot, er war kein Kommunist.

Konnten Sie mit ihm als Kind über Rassismus reden?

Briefe hätten ewig gedauert, an Telefonieren war nicht zu denken. Diese Gespräche führen wir jetzt erst. Vor 12 Jahren habe ich ihn in Tansania besucht. Ich war in einer Wut-Phase, habe ihm Vorwürfe gemacht: Warum hast du mich allein gelassen? Du warst der Einzige, der so aussah wie ich. Dabei wusste ich, er musste gehen.

Was hat er gesagt?

Es ist für ihn schwer auszuhalten, wenn ich ihm sage, dass es für mich schwer war. Deswegen habe ich irgendwann nicht mehr so gepusht. Aber auf meine Arbeit heute ist er unglaublich stolz.

„Für mich war es eine Befreiung, das Wort ‚Rassismus‘ kennenzu-lernen, mit Anfang 20“

In der DDR war es schwierig, über Rechtsextreme zu reden, weil der Faschismus offiziell als besiegt galt. Galt das für Rassismus auch?

Für unsere Familie war klar; dass der Staat lügt und uns einsperrt, und deswegen dürfen wir nicht reisen und deswegen dürfen wir meinen Vater nicht sehen. Meine Mutter hat mir das als großes Geheimnis anvertraut: Wir sind gegen den Staat.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Wenn ich zum Flötenunterricht gegangen bin und an diesem Parteihaus vorbeimusste, habe ich immer ganz laut „Pioniere voran, lasst uns vorwärtsgehen“ gesungen. Damit keiner unser Geheimnis bemerkt. Aber als Kind wollte ich nicht anecken, nicht noch etwas haben, was mich anders macht.

Sagen Sie „Mauerfall“, „Wende“ oder „Revolution“?

Ich habe das nicht gelabelt. Es war einfach eine aufregende Zeit. Am Tag, als die Mauer fiel, habe ich auf der Mauer getanzt.

Stört es Sie, dass auch 30 Jahre danach fast nur weiße Geschichten erzählt werden?

Auf jeden Fall! Ich spüre deshalb einen Trotz dieser ostdeutschen Identität gegenüber. Je näher ich Leipzig komme, desto verletzlicher werde ich. Ich werde immer noch überall geandert. Wenn ich in dem Haus bin, wo meine Großmutter seit 60 Jahren lebt, gucken mich die Leute dort an, als wollten sie mich gerade in Deutschland begrüßen. Auch bei der Wende hatte ich nie das Gefühl, das Recht zu haben, mich darüber zu freuen. Ich wurde in diesem Kampf nicht mitgedacht. Dieses „Wir“ in „Wir sind das Volk“ – ich war nie das Volk.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen