Alina Schwermer
Erste Frauen
: Feministische Ikone und Nazi-Kollaborateurin

Im Jahr 1928 gab es in Frankreich einen aufsehenerregenden Entscheid. Der Frauensportverband (FFSF) verweigerte seiner Athletin Violette Morris eine neue Lizenz. Nicht aus sportlichen Gründen freilich: Morris hatte in ihrem Leben über 200 Titel und Rekorde gesammelt; die reiche Französin mit Wurzeln in Palästina war eine der profiliertesten und vielseitigsten Sportlerinnen ihrer Zeit. „Was ein Mann kann, kann Violette auch“, so ihr Slogan, den sie recht konsequent auch privat anwendete. Madame Morris trug nämlich Hosen und Krawatten, beschimpfte Schiris, rauchte zwei Schachteln am Tag und tat überhaupt allerlei, was Männern vorbehalten sein sollte. Gesperrt wurde sie wegen „unsittlichem Verhalten“. Aber der Sportverband störte sich offenbar auch an ihrer politischen Rebellion. Violette Morris führte offen lesbische Beziehungen, war gut vernetzt in der Pariser Bohème und ließ sich später (sie war wohl transsexuell) die Brüste amputieren.

Im Spitzensport, wo Athletinnen nur als brave Damen geduldet waren, hatte Morris keine Lobby. Sie klagte gegen ihre Sperre und verlor. Berühmt wurde sie einige Jahre später aus einem anderen Grund – als Spionin fürs nationalsozialistische Deutschland.

Wie so viele Sportlerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts stammte Morris aus reichem Haus. Violette Morris, klein, kräftig und burschikos, wurde erste Weltrekordhalterin im Kugelstoßen, Weltrekordhalterin im Diskuswurf, französische Meisterin im Boxen – einer Sportart, in der sie oft Männer besiegte – und leidenschaftliche Autorennfahrerin, wobei sie unter anderem das 24-Stunden-Rennen Bol d’Or gewann. Nebenbei war Morris Mitglied der ersten französischen Frauenfußball-Nationalelf, des Nationalteams im Wasserpolo, nahm an Radrennen, Motorradrennen und Wettbewerben im Gewichtheben teil. Über 50 Medaillen, darunter mehrfach Gold bei Frauen-Olympiaden, hat sie in ihrem Leben angehäuft. Eine schillernde Person war sie und eine zwielichtige, die 1937 einen Mann erschoss. Die Umstände blieben unklar.

1935 wurde Morris vom deutschen Sicherheitsdienst angeheuert. Sie soll bei Olympia 1936 von Hitler persönlich eingeladen worden sein, versorgte die Deutschen mit militärischen Infos und folterte möglicherweise später für die französische Gestapo („Hyäne der Gestapo“ heißt reißerisch eine Biografie). Vor allem Letzteres ist umstritten. Wie umfangreich sie kollaborierte, ist ungeklärt; mancher scheint Schwierigkeiten zu haben, eine feministische Ikone anzuerkennen und sie zugleich als Nazi-Kollaborateurin zu akzeptieren.

Dabei erinnert Violette Morris gerade in diesen polarisierten Zeiten hilfreich daran, dass Menschen kompliziert sind. Dass Licht und Schatten, Täterin und Opfer und alles dazwischen nebeneinander existieren. Violette Morris kämpfte für einen Sport ohne Geschlechtertrennung, versorgte ihr Fußballteam mit Dopingmitteln und schimpfte mal, Frankreich werde durch seine Dekadenz als eine Nation von Sklaven enden. Ihr Tod ist, wie sollte es anders sein, nebulös. 1944 wurde Violette Morris bei einem geplanten Attentat von Kämpfern der Résistance erschossen. Möglicherweise wegen ihrer Kollaboration. Oder wegen Schwarzhandel. Oder es war ein Irrtum.