Der Hausbesuch: Alles mit Blumen

Ohne die Maueröffnung hätte Katrin Stein niemals ihren Traumberuf lernen können: Floristik. Sie meint echte Blumenkunst, nicht die aus Plastik.

Im Dorf nennt man sie nur „Blumenfrau“: Katrin Stein in ihrem Haus Foto: Felie Zernack

Katrin Stein will nur Freunde besuchen, als sie sich nach Grünberg bei Dresden verfährt. Die falsche Route setzt sie auf die richtige Spur. Sie bleibt. Und geht zurück in ein Leben auf dem Land, das die Floristin an ihre Kindheit erinnert.

Draußen: Eine Straße, so breit wie ein Fahrradweg, führt zu einem 300 Jahre alten Bauernhaus. Die Fassade ist so grau wie der Fels, der das Haus umgibt. Am Gartenzaun steht: „Die Blumenfrau.“

Drinnen: Gummistiefel stehen im Gang. Ein Schild, von Kinderhand gekritzelt, hängt an der Wand: „Blumen gießen“ steht drauf. Links geht es ins Wohnzimmer, es riecht nach Feuerholz. Der Dielenboden knarrt. Katrin Steins Hände ruhen auf der Plastiktischdecke. Sie schaut in den dampfenden Tee. Heute ist für sie einer der ruhigeren Tage.

Blumen: Blumenfrau nennen sie die Leute im Dorf. Katrin Stein, 46, ist Mutter und selbstständige Floristin. Eine, die sich weigert, ein Handy zu besitzen. Eine, die auch arbeitet, wenn es ihr schlecht geht. Eine, die schon als Kind kilometerweise Rüben hacken konnte. All dies erzählt sie mit dem Arm über der Stuhllehne. Ihre Augen werden dabei noch blauer, wenn sie aus dem Fenster schaut mit Blick auf ihre Wiese, eine einzige Bank steht dort. „Ich wollte nur Freunde besuchen, habe mich verfahren und bin in diesem Dorf gelandet.“ Es ist ein Dorf, das sie an ihre Kindheit erinnert hat: Hühner auf der Straße und verfallene Häuser.

Damals: Sie kommt aus einem 400-Einwohner-Ort in Südbrandenburg, erzählt Stein an dem Tisch, der früher im Haus ihrer Großmutter stand, „die strengste Frau“. Ihre Vorfahren sind fleißige Landwirte. Mit zehn Jahren arbeitet Katrin Stein schon auf dem Feld. Mit 14 Jahren verkauft sie eigene Tomaten aus einem Fahrradanhänger: „Ich habe mich mit Erde immer wohl gefühlt.“

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Das eine Deutschland: Was Stein an ihrer Kindheit in der DDR mochte: die Altstoffannahme und das Aufgehoben-Sein. „Man musste sich keine Gedanken machen, wo man in den Urlaub fährt, die Grenzen waren ja zu.“ Sie hat schöne Erinnerungen an Ferien an der Ostsee. Eine kleine Welt sei es gewesen, scheinbar behütet: „Den Politikkram habe ich ja nicht mitbekommen“, sagt sie und schaut wieder zum Fenster.

Kein Wunschberuf: Nach der zehnten Klasse hat Stein zwei Optionen: Kranführerin oder Traktoristin. Die Oma sagt: „Das wirst du nicht, das ist nicht gut für die Eierstöcke.“ Stattdessen macht sie Abitur und geht nach Cottbus, um Lehrerin zu werden, auch kein Wunschberuf. „Man konnte das Studium nicht schmeißen.“ Stein lächelt und fischt eine Traube aus einer Schale. Dann sei zum Glück die Wende gekommen.

Das andere Deutschland: Sie ist erst 16 Jahre alt, als sie im Studentenwohnheim die Fernsehbilder während der Mauereröffnung verfolgt: „Ich konnte es nicht glauben.“ Wie viele andere aus der DDR fahren auch alle ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen nach Berlin. Nur sie nicht, sie fährt nach Hause. Im Familien-Wohnzimmer sagt der Vater, der pflichtbewusste Landwirt: „Wie können die nur ihre Höfe im Stich lassen und nach Berlin fahren.“

In der Luft hängen: In dem Moment, in dem Katrin Stein endlich das machen könnte, was sie will, nämlich Floristin werden, gibt es keine Lehrstellen. Der Vater geht von Blumenladen zu Blumenladen, hakt nach, drängt, damit seine Tochter einen Ausbildungsplatz bekommt. Irgendwann klappt es doch, gar nicht weit weg von ihrem Zuhause.

Das Studium: Nach der Lehre geht sie nach Weihenstephan. Blumenkunst heißt das Studium. Die Fächer: Philosophie, Chaos-Theorie und Gestaltungslehre. Mehr Kunst als Gewächshaus. Ein schönes Studium, aber was sie ratlos in diesem neuen Deutschland macht: dass Studierende selbst bestimmen wollen, wann die Klausur ist. „Wenn das Demokratie ist, dann ist das ja dämlich“, denkt sie. Aufgewachsen in einer Diktatur, ist die Freiheit fast noch nicht auszuhalten. Trotzdem guckt sie sich das an, geht für ein Praktikum in die USA.

Floristin sei ein aussterbender Beruf, sagt Stein Foto: Felie Zernack

Endlich: Wieder zurück in Deutschland, macht sie sich daran, sich ihren größten Wunsch zu erfüllen: ein eigenes Geschäft. „In Blüte“ tauft sie es. Über 20 Jahre bindet sie seither Sträuße, Gestecke, Kränze, verkauft „Dekokram“. Dass die Floristik, ihr schöner Traumberuf, mittlerweile viel Müll produziert, habe sie erst mit der Zeit begriffen. Manchmal werde ihr schlecht „vor lauter Plastik“. Die Floristik sei ein aussterbender Beruf, seit Supermärkte Blumen zu Dumpingpreisen verkaufen. „Der Ofen“ ruft sie plötzlich mitten im Gespräch und springt auf. Es riecht nach gebackenen Auberginen.

Die eigene Wende: In der Küche brummt der Ofen. Postkartensprüche an der Wand. Getrocknete Kräuter in Gläsern. Durch ein Fenster sieht man auf einen nackten Felsen. Nebenan: eine Grotte mit feuchten Steinwänden. Der Ort, an dem Stein Blumen lagert. Seit ihre Tochter auf der Welt sei, arbeite sie freischaffend – „natürlich blumig“, so steht es auf ihrer Website.

Mutter-Sein: Drei Jahre stillt Stein ihre Tochter Clara, bis die Mutter sagt: „Hör doch auf, du bist schon so dünn.“ An was Stein sich gerne erinnert? Wie Clara sagt: „Ich glaube, ich kann fliegen“, wenn sie mit ihr auf dem Rücken durch das Dorf radelt. Als sie wieder arbeitet, darf die Tochter mit. „Ich will auch Blumenfrau werden“, habe Clara einmal gesagt. Heute ist sie elf und sagt: „Ich bin mir da nicht mehr so sicher.“

Clara: Es ist Stein wichtig, ihrer Tochter eine gute „Hülle“ zu geben. Cello-Unterricht, Waldorfschule. Dafür muss sie doch wieder als Honorarkraft in einem Laden arbeiten. Viel lieber hätte sie mehr Zeit mit ihrer Tochter zu Hause gehabt, sagt Stein auf einer grünen Couch mit Schafsfell sitzend. Daneben: Claras Schrein. Tote Insekten in Walnussschalen. Ein Plastikhirsch. Ein gleichschenkliges Kreuz.

Blumen, auch im Hof Foto: Felie Zernack

Der Glaube: Während ihrer Konfirmation habe sie in der Kirche gesessen und geflennt: „Ich habe immer nach etwas gesucht, es aber nicht gefunden. Vielleicht einfach nur mich selbst.“ Obwohl Stein aus der Kirche ausgetreten ist, glaubt sie: „Wenn wir sterben, fährt unsere Seele hoch, runter, rechts oder links. Schaut sich an, was war und wer man im nächsten Leben sein will.“ Was sie gewesen sei? Stein zuckt mit den Schultern. „Bei der Geburt vergisst man, wo man war“. Sie ignoriert das klingelnde Telefon im Flur und stellt das dampfende Blech auf den Gartentisch.

Der dritte Bewohner: Gelbe Rosen sind an der Haus­fassade gepflanzt, drei Wanderstöcke lehnen daran: „Von meinem Freund“, sagt sie. Mit modernen Wohnformen käme er nicht so klar. Andreas wohnt im Tipi. Es steht auf der Wiese gegenüber. Er sei viel in der Natur. Auf der Eingangstür stehen zwei Nachnamen. Heiraten will sie nicht.

Die Beziehung: Sie hatten sich im Bus kennengelernt auf dem Weg zu einem Landschaftsentwicklungsseminar. Keine Bilderbuchbeziehung: „Wir sind sehr verschieden“. Es gebe viel Streit: „Man muss schon was aushalten“, sagt Stein mit verschränkten Armen.

Der Unfall: Clara war noch ein Baby, als ihr Freund zwei Mal vom Fahrrad stürzte. Erst später bemerkten sie, dass Gehirnregionen beschädigt wurden. Da habe das mit der Vergesslichkeit angefangen. Seit zehn Jahren bekommt er eine Arbeitsunfähigkeitsrente. Es sei schwer für ihn. Mit 50 Rentner sein und der Frage nachhängen, wie man die Zeit mit Dingen füllt. Mal nehme er für sie die Motorsäge in die Hand. Mal mähe er für einen älteren Mann im Dorf den Rasen. „Ureineinwohner“ sagt Stein, wenn sie von den Dorfbewohnern spricht.

Das schwindende Dorf: Die meisten habe sie am Gartenzaun kennengelernt. Gerade schlendern Jugendliche vorbei, die mit dem Schulbus abgesetzt wurden. Man sieht sie nur von der Hüfte aufwärts. Früher gab es in Grünberg einen Gasthof, eine Post, jetzt nur noch eine Bäckerei. Manchmal störe sie die übertriebene Ordnung im Kopf. „Wertungsfrei“ beobachte Stein die AfD: „Das sind keine schlechten Menschen, aber eigentlich bin ich unpolitisch.“ Stein hat die Hände gefaltet und blickt auf die Aue.

Glück: Das sei „Weitblick“. Auf ihrer Weide Heu machen. Gleißende Hitze und warmer Wind in den Haaren. Da sehe sie ihre Vorfahren, ihre Mutter, die Schürzen und Kopftücher. „Diese Bilder machen mich glücklich.“

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