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Rosa Drachen und bewegte Abende

Ingvild Richardsen erzählt ein fast vergessenes Stück Emanzipationsgeschichte und porträtiert die glamourösen Schlüsselfiguren der Münchner Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Künstlerinnen, die öffentlichkeitswirksam Stil und Sexualität verhandelten

Von Jenni Zylka

Ein Skandal in Form eines rosa Seepferdchens. Besser gesagt, eines Seegauls; vielleicht sollte es gar einen Drachen darstellen, was da 1898 ornamental an der Hauswand des Münchner Fotoateliers Elvira verewigt wurde: In quietschbunten Farben hatte sich der Jugendstilarchitekt August Endell dem „Polypenrokoko“ hingegeben. Münchens gehobene Gesellschaft war fassungslos. Es heißt, die Bauarbeiter hätten sich während des Baus nicht in die umliegenden Kneipen getraut, aus Angst vor dem Spott der An­woh­ner*innen.

Dabei vollzog sich der eigentliche „Skandal“ eher innerhalb des Gebäudes: Das „Hof-Atelier Elvira“ wurde von Sophia Goudstikker und Anita Augspurg geführt, zwei Fotografinnen im Männerberuf. Zudem lebten sie in einer Partnerschaft. Zudem trugen sie ihr Haar kurz. Zudem waren sie Schlüsselfiguren der Münchner Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ingvild Richardsens Spurensuche „Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen“ porträtiert diese Frauen und viele andere, deren Namen weit weniger im kollektiven (und feministischen) Bewusstsein verankert sind als ihre Nachfolgerinnen der zweiten Welle der Frauenbewegung Ende der 60er Jahre.

Ingvild Richardsen: „ ‚Leiden­schaftliche Herzen, feurige Seelen‘. Wie Frauen die Welt veränderten“. S. Fischer, Frankfurt 2019, 368 S., 22 Euro

Denn es geht bei der über 100-jährigen Geschichte der „Women’s Lib“ natürlich auch um Sichtbarmachen:Außer Material über Augspurg und Goudstikker hat die Autorin Dokumente, Briefe, Zeitungsartikel und Bücher über meist aus „gutem Hause“ stammende Frauenrechtskämpferinnen wie Carry Brachvogel, Gabriele Reuter und die Dramatikerin Elsa Bernstein ausgewertet.

Letztere schaffte im Jahr 1893 ein Novum: Ihr Theaterstück „Dämmerung“ wurde an der „Freien Bühne“ in Berlin zur Aufführung gebracht – ein modernes, dem Naturalismus verhaftetes Drama, das nicht etwa nur den Mann, sondern vor allem „die bürgerliche Frau“ als Gegner*in der „modernen“, nämlich emanzipierten Frau adressierte. Der bis heute hämisch als „Stutenbissigkeit“ bezeichnete Neid untereinander, die Unvereinbarkeit der freiwillig abhängigen „alten Frau“ und der „neuen Frau“ seien ein mindestens ebenso großes Problem wie die selbstverständliche Misogynie in der Mehrheitsgesellschaft.

Richardsen erzählt von den Freundschaften innerhalb des Münchner Zirkels, von der Besonderheit des Ortes – das Königreich hatte eine eigene Rechtsprechung – und davon, wie das politische Denken und Handeln der Beteiligten den Tenor der Umgebung aufnahm und beeinflusste, ebenso sämtliche „sozialen“ Bereiche zwischen Kindererziehung und Vereinsmeierei: Eine „Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau“, zu der zeitweilig gar ein paar Männer gehörten (!) und deren Vorsitz Augspurg innehatte, wollte durch Diskussionen „die Ideen der Frauenbewegung in weite Kreise tragen“. Und durfte sich doch, wie damals alle bayerischen Frauenvereine, qua Gesetz nicht mit politischen Dingen befassen. Ein schwieriger Spagat – Frauenrechte sind Menschenrechte und damit politisch.

Die Unvereinbarkeit der freiwillig abhängigen „alten Frau“ und der „neuen Frau“ sei ein mindestens genauso großes Problem

Es ging den Aktivistinnen, wie heute immer noch, um Bildung, Mitgestaltung und das Auflösen von Vorurteilen. Landesweit organisierten sie Diskussionen, unter anderem über das Thema „Kann die Frau philosophieren?“ – und Richardsen zitiert einen begeisterten 21-jährigen Thomas Mann, der den damals von Ilka Freudenberg gehaltenen Vortrag zusammenfasste: „Es war ein wild bewegter Abend, sogar ein Universitätsprofessor griff ein, und das Ergebnis war die sieghafte Bejahung der Frage, ob Frauen philosophieren können.“

Ingvild Richardsens Buch gibt einen umfassenden Überblick über die Jahre zwischen 1890 und der Machtübernahme der Nazis, deren „Frau an den Herd“-Politik zum Erliegen sämtlicher Aktivitäten führte. Der rosa Elvira-Drache auf grünem Grund wurde folgerichtig 1937 auf Geheiß Hitlers abgeschlagen.

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