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It’s a deal!

Der britische Premierminister Boris Johnson einigt sich mit der EU auf einen neuen Brexit-Deal. Mit einer neuen Zollregelung für Nordirland ist die „Quadratur des Kreises“ gelungen. Beide Seiten zeigen sich vor dem EU-Gipfel hochzufrieden

Johnson und Juncker: einig in der Trennung Foto: Francisco Seco/ap

Von Dominic Johnson, Eric Bonse
(Brüssel) und Ralf Sotscheck (Dublin)

Bis zur letzten Minute schien alles offen. Die Brexit-Unterhändler in Brüssel waren in der Nacht zum Donnerstag um 2 Uhr früh auseinandergegangen. Rund 12 Stunden später schon wurden die ersten Teilnehmer des EU-Gipfels erwartet, der eigentlich den neuen Brexit-Deal zwischen Großbritannien und der EU absegnen sollte. Noch am späten Vormittag lag immer noch kein fertiger Text vor. Bis kurz vor Mittag plötzlich EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und der britische Premierminister Boris Johnson den Durchbruch verkündeten. Johnson jubelte, man habe sich auf einen „großartigen neuen Deal“ ge­einigt. Juncker twitterte freudig: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal. Wir haben einen.“

Die Vereinbarung, die wenig später von der EU-Kommission dem EU-Gipfel zur Annahme empfohlen wurde, nimmt wesentliche Veränderungen an dem Abkommen vor, das die EU mit Theresa May im November 2018 geschlossen hatte. Ein neues Nordirland-Protokoll streicht den ungeliebten „Backstop“, an dem der May-Deal im britischen Parlament gescheitert war. Damit hat Johnson, der als Backstop-Kritiker im Juli Premierminister geworden war, einen bis vor Kurzem noch für unmöglich gehaltenen politischen Triumph geschafft.

Man habe die „Quadratur des Kreises“ geschafft, lobte EU-Chef­unterhändler Michel Barnier. Gemeint ist eine Lösung des Problems, an dem seit zwei Jahren alle scheitern: Großbritanniens Austritt aus der EU-Zollunion mit der Offenhaltung der zukünftigen EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland zu vereinbaren.

Denn irgendwo muss ja dann eine Zollgrenze verlaufen. Zwischen Irland und Nordirland? Eine undenkbare Gefährdung des Friedens, sagten Brüssel und Dublin. Zwischen Nord­irland, das dann in der Zollunion bleiben müsste, und Großbritannien? Eine undenkbare Spaltung des britischen Staatsgebietes, sagte London. Gar nicht, also indem das Vereinigte Königreich einfach ganz in der Zollunion bleibt? Dann wäre man ja faktisch weiter in der EU, sagte London.

Die Lösung lautet nun so: Das gesamte Vereinigte Königreich darf die Zollunion verlassen. Aber die Zollgrenze zu Irland verläuft nicht an der irischen Grenze, sondern aus britischer Sicht schon vorher, zwischen Großbritannien und Nord­irland. Dieses liegt dann geografisch auf der EU-Seite der Zollgrenze, ohne aber zum EU-Zollgebiet zu gehören.

Damit gibt es keine Zollkontrollen auf der irischen Insel. Zollformalitäten gibt es nur zwischen Großbritannien und Nordirland. Sie greifen aber nur bei Handelsgütern, die von Großbritannien aus über Nordirland weiter nach Irland verschifft werden. Bei Gütern, die in Nordirland verbleiben, werden die erhobenen Zölle später erstattet beziehungsweise gar nicht erst eingetrieben.

Ein Beispiel: Ein Unternehmen verkauft aus England einen Kühlschrank nach Nord­irland. Der wird nach EU-Regeln verzollt – aber wenn der Abnehmer in Nordirland sitzt, wird die Zollgebühr nicht fällig. Sitzt der Abnehmer in der Republik Irland und damit in der EU, ist der Zoll fällig, aber die Formalitäten haben schon die Briten erledigt; auf der irischen Insel passiert nichts.

Das Ganze klingt sehr kompliziert. Aber Nordirland hat nur 1,8 Millionen Einwohner, sein Warenimport aus ­Großbritannien im Wert von rund 15 Milliarden Euro pro Jahr besteht hauptsächlich aus Lebensmittelprodukten für nordirische Supermärkte. Das ist überschaubar.

Wichtig ist zusätzlich, dass in Nordirland, nicht aber in Großbritannien, die Regeln des EU-Binnenmarkts gelten sollen; also muss es sowieso Warenkontrollen geben. Großbritannien soll für diese Kontrollen an den nordirischen „Entry points“ – also Häfen und Flughäfen – sorgen, sagte EU-Chef­unter­händler Barnier bei der Präsentation des Deals. Wichtig seien auch eine „faire“ Regelung bei der Mehrwertsteuer sowie ein „Level ­playing field“ bei Sozial- und Umweltstandards. Großbritannien soll diese EU-Standards anerkennen und nicht unter­bieten.

„Das ist ein exzellenter Deal, nun können wir endlich den wahren Brexit liefern“, jubelte Johnson. Großbritannien könne nun am 31. Oktober aus der EU ausscheiden – nicht gedemütigt und gespalten, sondern aufrecht und stolz. In Kraft treten soll das neue Nordirland-Protokoll am Ende der vorgesehenen Übergangsfrist, während derer die bisherigen Regeln weiter gelten – also Ende 2020.

Johnson hat einen bis vor Kurzem noch für unmöglich gehaltenen politischen Triumph geschafft

Demgegenüber hielt sich die Freude bei den EU-Chefs in Grenzen. Die Einigung sei eine gute Nachricht, sie müsse aber noch genau analysiert werden, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Ankunft in Brüssel. Es sei durchaus möglich, dass die Staats- und Regierungschefs auf einer eingehenden Prüfung bestehen, erläuterte ein hochrangiger EU-Vertreter. Andererseits drängt die Zeit: Wenn der Deal wie geplant am 31. Oktober in Kraft treten soll, so muss der EU-Gipfel spätestens am Freitag grünes Licht geben.

Am Samstag steht dann die entscheidende Abstimmung im britischen Unterhaus an. Dort verfügt Johnson über keine Mehrheit. Am problematischsten für den Premier ist die ablehnende Haltung der nordirischen Unionisten in der DUP (Democratic Unionist Party), die normalerweise die Regierung unterstützen. Man könne den neuen Deal nicht absegnen, erklärten bereits am Morgen DUP-Parteichefin Arlene Foster und ihr Stellvertreter Nigel Dodds, und bekräftigten dies auch nach Veröffentlichung des Textes.

Der DUP-Abgeordnete Sam­my Wilson sagte, ein Abkommen, das de facto eine Zollgrenze in der Irischen See errichte, verändere den Status Nordirlands und benötige daher laut dem Karfreitagsabkommen von 1998 die Zustimmung beider Bevölkerungsteile – der protestantisch-unionistischen sowie der katholisch-republikanischen Parteien. Der neue Abkommenstext sieht gar keine Zustimmungspflicht Nord­irlands vor. Erst nach 2025, soll das nordirische Parlament entscheiden, ob das Protokoll weiter gilt. Wenn beide Bevölkerungsteile zustimmen, läuft es weitere acht Jahre, bei einer einfachen Mehrheit vier Jahre. Wenn es abgelehnt wird, läuft es zwei Jahre später aus.

Um seinen Deal abzusichern, will Johnson die EU-Chefs überreden, eine weitere Verlängerung beim Brexit kategorisch auszuschließen. Die britischen Abgeordneten stünden dann am Samstag nur noch vor der Wahl zwischen „Deal“ und „No Deal“. Juncker erklärte am Nachmittag tatsächlich, es werde keine Brexit-Verlängerung geben.