Roman „Das flüssige Land“: Abgrund, tief

In Raphaela Edelbauers Roman „Das flüssige Land“ tut sich in einer österreichischen Kleinstadt ein rätselhaftes Loch auf. Was hat es damit auf sich?

ein großes Loch im Asphalt

Ein Erdloch inmitten einer Stadt 2007 in Guatemala Foto: reuters

Am Anfang trifft Ruth Schwarz im „Gasthof zur tausendjährigen Eiche“ einen Maskenhändler. Er behauptet, eine Zeit bei den Aborigines in Australien gelebt zu haben. Und erzählt ihr davon. „Geistige und körperliche Welt“, sagt er, „verbinden sich in einer ewigen Schöpfungsgegenwart, der Traumzeit, zu einem Ort, an dem wir mit unseren Vorfahren in Kontakt treten können.

Die Ahnen beeinflussen durch ihre Handlungen unsere Welt, und wir wiederum können die Traumzeit durch das verändern, was wir tun.“ Es ist eine Schlüsselszene in „Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer. Am Ende, als Ruth Schwarz den Maskenhändler ein weiteres Mal trifft, sagt sie ihm: „Ich hatte all diese Jahre das Gefühl, dass mir die Landschaft etwas mitteilen wollte, diese vermeintlich bewusstlose Natur, dass sie mir Aufschluss über meine eigene Entwurzelung geben konnte.“

Die „Landschaft“, das ist Groß-Einlau, dort, wo Schwarz’ Eltern aufgewachsen waren. Eine kleine Stadt in der österreichischen Provinz. Ein Ort, der in ihrer Wiener Kindheit nie Thema war. Nicht, „weil es als Tabu gegolten hätte: Die Vergangenheit schien uns einfach ohne jede Relevanz zu sein.“ Jetzt aber sind Schwarz’ Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und überraschenderweise haben sie in ihrem Testament verfügt, dass sie in Groß-Einland begraben werden wollen.

Doch der Ort ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Das Einzige, was Raphaela Edelbauers Ich-Erzählerin und Heldin weiß, ist, dass er im „Wechselgebiet“ liegt. Und dass sie oft in einem „Gasthof zur tausendjährigen Eiche“ gewesen wären. Wo Ruth Schwarz jenen Maskenhändler trifft, der seinen Bericht zur Traumzeit der Aborigines noch weiter zugespitzt hatte: „Aber was die meisten Menschen an der Traumzeit nicht begreifen wollen, ist, dass die physische Welt in ihr bereits die Verbindung aus geistiger und körperlicher ist. Dass um uns herum die Landschaft gerade so fließt wie unsere Wahrnehmung – alles aus einem Guss. Somit wird die ganze Welt eigentlich Metapher.“

Raphaela Edelbauer: "Das flüssige Land". Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019, 350 Seiten, 22 Euro

Es ist dieses „flüssige Land“, auf das Ruth Schwarz nach einer abenteuerlichen Fahrt durch den Wald trifft: eine wunderschöne Fachwerkstadt, die aber auf dem unsicheren Grund eines alten Kalkbergwerks steht. Immer wieder senkt sich der Boden, entstehen Risse in den Häusern. Riesige Löcher mitten in der Stadt führen in eine bodenlose Tiefe. Aber nicht nur das: Groß-Einland, findet Ruth Schwarz heraus, hat auch ein Problem mit der Vergangenheit. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden hier in einer Nacht 800 Zwangsarbeiter umgebracht. Von einer Wachmannschaft, die aus zehn Personen bestand. Aber, fragt sich Ruth Schwarz, wie konnten zehn Männer in einer Nacht achthundert Menschen töten?

Die Stadt versinkt

In „Das flüssige Land“ gelingt Raphaela Edelbauer eines besonders gut: die Schilderung der schleichenden Verstrickung der Heldin in das emotionale Netz Groß-Einlands. Nicht nur, dass sie sehr schnell heimatliche Gefühle entwickelt – die Einwohner nehmen sie als eine der ihren auf, weil ihre Eltern aus dem Ort sind. Auch wie Edelbauer Schwarz’ Verhältnis zu der Gräfin beschreibt, die den Ort beherrscht, ist gelungen. Geschickt manipuliert sie Schwarz, bringt sie dazu, ein Füllmittel für die einbrechenden Schächte zu entwickeln, und versucht sie davon abzuhalten, sich mit der dunklen Vergangenheit des Ortes zu beschäftigen. Man bekommt eine Ahnung davon, wie es sein kann, dass eine Partei in Österreich so stark ist, die die NS-Vergangenheit allzu gern verharmlost.

Das Ende des Romans ist pessimistisch. Das mag insofern legitim sein, als es einen Status quo in Österreich – und nicht nur dort – beschreibt. Wie so viele kapituliert Ruth Schwarz vor der Ambivalenz ihrer Gefühle: Einerseits hat sie eine Heimat gefunden, sogar neue Freunde; andererseits hat sie das Gefühl, deren Leben mit ihren Recherchen zu den Massenerschießungen infrage zu stellen. Indem sie am Ende wieder aus Groß-Einland flieht, akzeptiert sie die Spaltung des Landes in die dunkle, unaufgeklärte Provinz, für die Groß-Einland steht, und das aufgeklärte Wien.

Was jedoch in „Das flüssige Land“ fehlt, ist die Wiederkehr des Verdrängten, der verdrängten NS-Zeit. Je länger Ruth Schwarz in Groß-Einland lebt, desto mehr werden ihr – und mit ihr auch dem Leser – die Menschen sympathischer. Sicher, die Stadt versinkt im Boden, und alle versuchen das in irrsinnigen, von vornherein zum Scheitern verurteilten Aktionen zu verhindern – das ist die Metapher für ein Land, das sich erfolglos dem Wandel zu entziehen versucht.

Aber es bleibt bei dieser allgemein drohenden Katastrophe. Rechtsradikalismus ist in Groß-Einland zum Beispiel kein Problem. Selbst die Fremdenfeindlichkeit wird nur angedeutet. Und wird im Umfeld der grotesken, aber sympathischen und traurigen Menschen dieses Ortes zu einer lässlichen Sünde.

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