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Momente der Entgrenzung

Noch einmal zurück in nachwendische Zeiten: „No Photos on the Dance Floor!“ bei C/O Berlin zeigt Relikte und Infrastruktur des Berliner Nachtlebens

Von Tilman Baumgärtel

Acht Wochen lang besuchte der israelische Künstler Erez Israeli an jedem Sonntag den Berliner Technoklub Berghain. Am Eingang erhielt er jedes Mal einen Einlassstempel. Diesen Stempel wusch er sich nach dem Feiern nicht ab, sondern ließ ihn sich in die Haut eintätowieren. Auf der Innenseite seiner beiden Unterarme sammelten sich so schwarze Motive, die selbst schon wieder etwas über das Berghain aussagen.

Falls es noch eines Beweises bedurft haben sollte, mit welchem Fanatismus manche Leute “ihren“ Club in Berlin in ihren Lebensstil integrieren, hätten wir hier also ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Israeli hielt den Vorgang mit Fotos und Video fest: Wie in einem Animationsfilm sieht man auf zehn Fotografien, wie sich sein schmaler Arm mit Bildern füllt. Ein etwas wackeliges Video zeigt, wie ihm an der Kasse ein Stempel nach dem anderen aufgedrückt wird. Weiter kommt er mit seiner Kamera nicht – an der Kasse gibt es nämlich auch die berühmt-berüchtigten Aufkleber, mit denen man seine Handykamera verkleben muss. Denn wie in vielen anderen Berliner Clubs herrscht im Berghain striktes Fotografierverbot. Der Nachtclub soll seinen Nimbus als sicheres Paralleluniversum behalten, in dem die Regeln der wirklichen Welt nicht gelten.

Denn das ist die Utopie, der Nacht für Nacht im Berliner Nachtleben gehuldigt wird: Hier soll man sein können, was man ist, solange man damit nicht die Selbstverwirklichung der anderen Clubber behindert – und zwar ohne, dass die Bilder des individuellen Austickens am nächsten Tag bei Facebook oder Instagram auftauchen.

Tatsächlich ist es bis heute gelungen, Fotos von dem nächtlichen Treiben im Berghain weitgehend zu verhindern. Dafür gibt es auf Instagram einen eigenen Hashtag @berghainsticker, der Bilder zeigt, die aufgenommen wurden, während der Aufkleber die Kameralinse bedeckte: monochrome Bilder in verschiedenen Farben, bei denen an den Rändern manchmal leichte Lichteinfälle zu sehen sind. So kann natürlich jeder behaupten, im Berghain gewesen zu sein!

Streng genommen dürfte es die Ausstellung „No Photos on the Dance Floor!“ bei C/O Berlin, bei der Erez Israelis „Stempelwald“ zu sehen ist, also gar nicht geben, wie ja bereits ihr Titel nahelegt. Aber ein Phänomen wie die Entstehung der Technoszene im Nachwende-Berlin ist natürlich nicht undokumentiert geblieben. Seit einigen Jahren wird das Phänomen des nicht enden wollenden Nachtlebens der Stadt in den verschiedensten Medien kodifiziert: Da sind Bücher wie „Der Klang der Familie“ von Felix Denk und Sven von Thülen oder „Die ersten Tage von Berlin“ von taz-Redakteur Ulrich Gutmair, Bildbände wie „Berlin Wonderland“ oder „Temporary Spaces“, Ausstellungen wie „Wir sind hier nicht zum Spass“ oder „Nineties Berlin“, Filme wie „Berlinized“ oder „Berlin Bouncer“.

Sie alle tragen zur Festschreibung eines Phänomens bei, das eigentlich ephemer und transistorisch war: die zeitweise Übernahme der Ost-Berliner Innenstadtbezirke durch Clubs und Bars, die sich nach dem Fall der Mauer in der heruntergekommenen Bausubstanz vorübergehend eingerichtet hatte.

So ist inzwischen ein mächtiges Narrativ entstanden, das heute Standortfaktor und Touristenmagnet ist. Und dieses Narrativ lebt von der versunkenen Zeit, als verstrahlte Raver aus dem Tresor auf der Leipziger Straße vor dem Bundesrat herumschwankten und man seinen Club in aufgegebenen öffentlichen Toiletten mitten auf der Torstraße einrichten konnte. Mit jedem Durchlauf, den diese Nostalgiemaschine hinter sich bringt, wird das Elektro noch enger, das E-Werk noch bunter und der Bunker noch härter.

Wie räudig die frühen Orte dieser Szene waren, zeigt ein kurzes Video, das der Künstler Tilmann Künzel nach der letzten Party im alten Tresor an der Leipziger Straße gedreht hat. Diese heruntergekommenen Gemächer voller Schrottinventar sollen Kristallisationspunkt des Berliner Techno und Austragungsort von gloriosen Parties gewesen sein?

Statt auf Bilder von entgrenzten Tanzflächenexzessen und unbändigem Feiern konzentriert sich die Ausstellung auf die Infrastruktur und die Relikte dieser Partys. Fotos von Martin Eberle zeigen leere Clubs aus den 90er Jahren im Putzlicht, die bei genauer Betrachtung aus wenig mehr als ein paar Bierkisten, einer schlampig zusammengezimmerten Bar und einem DJ-Pult in unrenovierten Kellern bestanden. Dabei fehlte es eigentlich nicht an visueller Fantasie, wie die Flyer aus der Sammlung von Mike Riehmels zeigen, die in Vitrinen zu sehen sind.

Auf den Fotos von Wolfgang Tilmans sieht man hier und da zwar ein bisschen Dancefloor, aber vor allem erschöpfte Raver nach dem Ende der Party, Leerlauf in der Chill-Out-Ecke, Details von Partyklamotten, die Schlange vor dem Ostgut. Auch auf den Bildern von George Nebieridze erkennt man allenfalls Details der nächtlichen Exzesse: eine leere Zigarettenschachtel und ein Spiegel mit Kokainspuren hier, Rauchschwaden im bunten Licht da. Salvatore Di Gregorio hat DJs direkt nach ihrem Auftritt vor neutral schwarzem Hintergrund porträtiert, manche von ihnen noch aufgedreht und euphorisiert, andere erschöpft und verschwitzt. Und Sven Marquardt zeigt einmal mehr seine weihevollen Schwarz-Weiß-Fotos von DJs und Türstehern vor Industriekulisse.

Die Schau dokumentiert auch das unaufhörliche Verschwinden der Welt,der sie gewidmet ist

Woher der ganze Lärm, der eine Tanzfläche für kurze Zeit zu einem geeinten Kollektiv zusammenschweißt, kommt, zeigen die Bilder von Marco Microbi, der in Clubs bei Live-Auftritten abenteuerliche Konstruktionen aus Synthesizern, Samplern, Effektgeräten, Mischpulten und Schnapsgläsern fotografiert hat, als wären sie retrofuturistische Skulpturen. Was für Geräusche aus diesen Kistchen kommen, muss man sich freilich vorstellen.

Sowieso ist „No Photos on the Dance Floor!“ gemessen am Thema eine bemerkenswert ruhige Ausstellung. Erst im vorletzten, verdunkelten Raum, der bei der Eröffnung selbst als temporärer Club diente, tobt hinter schallschluckenden Türen barbarisch lauter Techno. Denn hier sind Videos aus den Clubs zu sehen, unter anderem von einem Auftritt des Künstler Carsten Nicolai alias Alva Noto, der 2014 sein Publikum mit brachialem Minimaltechno vom Laptop planiert.

So nähert sich die Ausstellung gegen Ende der Gegenwart an, in der die Clubs aus dem Stadtzentrum verdrängt werden, viele der alten Aktivisten aufgegeben haben und Überlebende wie die gesichtslosen Besitzer des Berghains wahrscheinlich Millionäre sind. Wo einst der Tresor stand, ist heute der Kundendienst von Zalando. Die Baracke des 90 Grad musste Bauten mit bodentiefen Fenstern für Besserverdiende weichen. Und da, wo sich mal die Besucher vor dem Eingang des Ostguts drängelten, ist heute der Parkplatz von Metro.

So dokumentiert „No Photos on the Dance Floor!“ auch das unaufhörliche Verschwinden der Welt, der die Ausstellung gewidmet ist. Allein in diesem Jahr schlossen unter anderem schon Johnny Knüppel, M-BIA, Chalet, Farbfernseher und die Arena. „Der Arena Club im altehrwürdigen Kesselhaus scheint den Vibe der frühen Berliner Clubkultur und der Geburtsstunde des Techno konserviert zu haben“, heißt es nun auf dessen Website. Jetzt kann man das Gebäude für Messen und Events mieten. Bei denen muss man dann wahrscheinlich nicht das Kameraobjektiv zukleben. Entgrenzte Szenen und ekstatische Auftritte, als ob es kein Morgen gäbe, wird man dort aber wohl nicht mehr fotografieren können.

„No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989 – Today“: C/O Berlin, Hardenbergstr. 22–24, bis 30. November, tgl. 10–20 Uhr. Zur Ausstellung erscheint im Prestel-Verlag eine begleitende Publikation.

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