CalArts-Ausstellung in Hannover: Kunst ohne Zügel

Wilde Zeiten: Das „California Institute of Arts“ entwickelte in den 1970ern eine interdisziplinäre, radikale und wegweisende Kunstschule.

Nackte Menschen tanzen um ein Auto herum.

Immer wieder Nackte: Fotografie „Grasstains Enviro Dance“ von 1981 Foto: California Institute of the Arts Archives Photographic Materials Collection

HANNOVER taz | Fast scheint es wie ein sicheres Konzept für eine revolutionäre Kunstschule: Man nehme zwei existierende, ehrwürdig überkommene Institutionen, vereine sie und verpasse ihnen dabei ein innovatives Lehrkonzept. So hatte es Walter Gropius 1919 bei der Gründung des Bauhauses in Weimar gehalten, so entstand 1970 das amerikanische „California Institute of Arts“, CalArts, in Los Angeles. Hier wurden allerdings ein Musik-Konservatorium und eine Kunstschule zusammengefasst, was dem neuen Institut einen gewichtigeren Schwerpunkt in den musikalisch darstellenden Künsten verschrieb, als es die Bauhausbühne je hatte bieten können.

Dem Gründungsjahrzehnt des CalArts bis 1980 widmet die Kestnergesellschaft Hannover derzeit eine große Rückschau, sicherlich auch, um im Bauhausjubeljahr die Selbstvergewisserung des kalifornischen Experiments in der Nachfolge des Bauhauses zu unterstreichen. Gezeigt werden neben Archivalien insgesamt etwa 100 Werke von 40 Künstler*innen sowie 13 Interviews mit Zeitzeug*innen.

Insgesamt also eine riesige, etwas geschichtslastige Materialschlacht, arrangiert im ganzen Haus, und eher ungewöhnlich für einen Kunstverein, der primär ja aktuelle Positionen des Kunstgeschehens aufzeigen soll. Für nur mittelmäßig in der US-amerikanischen Kunstszene Bewanderte wird das Unterfangen vielleicht auch eine Überforderung darstellen.

Glücklicher Moment

Die scheidende Direktorin der Kestner­gesellschaft, Christina Végh, betont, dass sie mit der Ausstellung eine Sequenz amerikanischer Künstler*innen aus dem Dunstkreis des CalArts weiterschreiben wolle. Végh hatte etwa 2015/16 mit Rita McBride ihr kuratorisches Debüt bestritten und mit Christopher Williams im letzten Jahr einen irritierend minimalistischen Konzeptkünstler präsentiert.

Zusammen mit ihrem Landsmann, dem in Los Angeles lebenden Schweizer Kurator Philipp Kaiser, hat Végh den Parforceritt unternommen, der 2020 zudem im Kunsthaus Graz gezeigt wird. Beide bekräftigen, dass es ihnen vor allem darum geht, aufzuzeigen, dass „Kunst“, besonders aber eine radikale Hochschule stets nach einem speziellen Klima, einem glücklichen historischen Moment und entsprechenden Akteuren verlange, wie der Untertitel „Wo Kunst geschehen kann“ verdeutlichen soll.

Denn aktuell, so Philipp Kaiser, plane man am CalArts zwar das 50-jährige Jubiläum und pflege den Schwerpunkt in der Musik. Andere Kunsthochschulen hätten ihm aber längst den Rang abgelaufen, weil eben auch sie die Gunst ihrer jeweiligen Zeit zu nutzen verstehen. Trotzdem, so Kaiser, zeige man in Hannover kein obskures Phänomen, sondern eine wegweisende Schule, die bis in die ganz aktuellen, konkurrierenden Kunstszenen der West- und Ostküste der USA ausstrahle.

Auch das CalArts fiel nicht vom Himmel, es ging auf eine Initiative von Walt Disney zurück. Bereits 1964 hatte er in einem Kino-Trailer ein Fundraising lanciert, sah seine programmatische „Community of all Arts“ wohl stark aus der Perspektive der Filmwirtschaft. Der Titel „Institute“ sollte für wissenschaftliche Methodik stehen, als Fachrichtungen waren Musik und Kunst, Film, Theater, Design und Mode geplant.

Als die Schule 1970 eröffnete, mussten ihre etwa 650 Mitglieder mit der großzügigen Villenanlage einer ehemaligen katholischen Mädchenschule vorliebnehmen, denn ein Neubau verzögerte sich, auch aufgrund eines Erdbebens. Aber gerade dieses altehrwürdige Pensionat schien ungezügelt anarchisches Leben zu stimulieren, legendäre Pool Partys, Seminare zu „Advanced Drug Research“ oder „Sex in Human Experience and Society“ nahmen hier ihren Anfang. Kuratorenlegende Harald Szeemann aus Bern registrierte umgehend das dortige Treiben, hätte CalArts und seine aktionistischen Kunstversuche gern zu seinem „100-Tage-Ereignis“ der Documenta 5 anno 1972 nach Kassel eingeladen.

Gleich nach Bezug des Neubaus Ende 1971 wurde das „Feminist Art Program“, exklusiv für Frauen, ins Leben gerufen, Lehrende wie Judy Chicago oder Miriam Schapiro sind international bekannte Protagonistinnen. Auf 35 Wochenstunden Pflichtprogramm belief sich das Pensum, oder wie es Faith Wilding, eine damalige Aktivistin, die zur Eröffnung nach Hannover gekommen war, auf den Punkt brachte: 24 Stunden Feminismus!

"Wo Kunst geschehen kann – Die frühen Jahre des CalArts": bis 10. November, Hannover, Kestnergesellschaft

Die Abteilung leistete Grundlagen­arbeit, machte erstmals einen Kanon weiblicher Künstlerinnen in der Kunstgeschichte sichtbar, suchte aber auch mit gruppentherapeutischen Techniken ein weibliches Bewusstsein, besonders für den eigenen Körper, zu initiieren. „Eigentlich waren wir immer nackt“, so Wilding zur handfesten Praxis feministischer Kunstpädagogik.

Viele Deutsche gingen an das CalArts: Klaus vom Bruch arbeitete in der Konzeptkunst, Videomacherin Ulrike Rosenbach lehrte Feministisches, Klangkünstler Stephan von Huene Skulptur, Wolfgang Stoerchle in der raum-, medien- und absolut gattungsfreien „Post Studio Art Class“. Das wirklich Radikale der privaten Kunstschule CalArts waren aber nicht die Internationalität, eine Interdisziplinarität im Geiste des Bauhauses oder feministische Kunsttheorie, sondern der Verzicht auf Lehrpläne und Benotungen sowie der vollkommene Abbau aller Hierarchien: Jede*r Student*in war sofort Künstler*in!

Das bedeutete einerseits enorme Freiheiten, die Begegnungen untereinander fanden stets auf gleicher Ebene statt. Es forderte aber auch die Verantwortung für die eigenständige, substanzielle Arbeit und künstlerische Selbstentwicklung. Dass diese oft zu hartem Wettbewerb untereinander führte, hat der CalArts-Absolvent und Verfechter figurativer Malerei, Eric Fischl, einmal rekapituliert. Es wurde stundenlang über Konzepte diskutiert, dabei scharf miteinander ins Gericht gegangen, Fischl sah untereinander „römische Gladiatorenkämpfe“ ausgefochten. Ob sich heutige Studierende auf derartige Lehrkonzepte einlassen würden?

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