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„Entwürdigend und rechtswidrig“

Panzerfahrzeuge vor dem Rathaus: Der Bürgermeister von Diyarbakır über seine Amtsenthebung

Foto: privat

Adnan Selçuk Mızraklı

wurde 1963 in Urfa geboren. Von 2008 bis 2010 war der Mediziner Vorsitzender der Ärztekammer Diyarbakır. Im Juni 2018 wurde er zum Parlamentsabgeordneten gewählt. 2019 trat er als Kandidat der HDP zur Bürgermeisterwahl in Diyarbakır an.

Interview Figen Güneş

taz: Herr Mızraklı, Sie wurden Ihres Amtes enthoben. Was ist passiert?

Selçuk Mızraklı: In der Nacht zirkulierten bereits Meldungen in der Presse und in den sozialen Medien. Entsprechend waren wir die ganze Nacht wach und sahen, dass ab 4.30 Uhr das Rathaus von Diyarbakır mit Panzerfahrzeugen umstellt wurde. Gegen 6 Uhr erfuhren wir, dass Sicherheitskräfte eindrangen. Ich war um zwanzig vor sieben dort und wurde nicht ins Rathaus gelassen. Mir wurde gesagt, dass mir ein Schreiben zugestellt werde, dass ich meines Amtes enthoben sei.

Wer hat Ihnen das zugestellt?

Später nahm mich der Vize-Gouverneur der Provinz Diyarbakır dann ins Rathaus mit, wo mir das Schreiben zugestellt wurde. Ich gab zu Protokoll, dass das dem Willen der Wählerinnen und Wähler zuwiderläuft, verfassungswidrig und demokratiefeindlich ist. Ich sagte, es sei entwürdigend, das Schreiben entgegenzunehmen und verweigerte meine Unterschrift.

Konnte das Personal ins Gebäude?

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden nicht reingelassen, auch später nicht. Es hieß, der Gouverneur der Provinz Diyarbakır sei als kommissarischer Verwalter eingesetzt worden. Damit ist der heutige Tag zu einem Meilenstein für die politische und rechtliche Entwicklung der Türkei geworden. Die Gesellschaft hatte gerade begonnen, wieder Vertrauen in die Möglichkeit demokratischen Wandels aufzubauen.

Gab es Demonstrationen?

An vielen Orten der Stadt gab es spontane Proteste. Leider ist die Polizei auf unrechtmäßige und gewaltsame Weise dagegen vorgegangen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wurde außer Kraft gesetzt. Man sieht auch auf Videos, dass sowohl unsere Abgeordneten als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der HDP massiv angegangen wurden. Gleichzeitig wurden mehrere hundert Menschen in Diyarbakır festgenommen.

Wer sind diese Menschen?

Unter anderem HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete des Stadtrates. Hier wird nicht nur der Wille der Wählerinnen und Wähler unterdrückt, sondern sämtliche errungenen demokratischen Standards werden achtlos entsorgt. Hier müssen Zivilgesellschaft und Medien zeigen, dass sie noch Werte wie Rechtsstaatlichkeit verteidigen. Es geht nicht nur um die HDP, sondern um das demokratische System.

Haben Sie einen Aktionsplan?

Wir werden unseren Widerspruch auf zivilgesellschaftlicher Ebene äußern. Wir denken an Formen des zivilen Ungehorsams. Dazu wird sich der HDP-Vorstand äußern. Es wäre entwürdigend, sich diesem Raubüberfall auf unseren politischen Willen einfach zu beugen. Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

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