Sie gab uns ein Morgen

Toni Morrison schrieb für diejenigen, die in einer weißen Gesellschaft aufwuchsen und lernten, ihre eigene Schönheit zu verleugnen. Ihre Geschichten zeigten uns, wie fest der Griff der Vergangenheit an unserer Kehle sitzt. Ein Nachruf

Toni Morrison starb am Montag im Alter von 88 Jahren. Das Foto zeigt sie im Jahr 1997 Foto: Deborah Feingold/Corbis/Getty Images

Von Sharon Dodua Otoo

Als ich das erste Mal den Roman „Beloved“ (auf deutsch „Menschenkind“) von Toni Morrison las, war ich überwältigt. Ich erinnere mich nicht, wer ich vorher war, aber danach war ich eine andere Person. Ich habe damals sicherlich nicht alles verstanden, habe das Buch lange nicht begreifen können und hadere stellenweise immer noch damit. Aber die Geschichte einer Mutter, Sethe, die ihr eigenes Kind ermordet, um es vor der Sklaverei zu retten, erschütterte mich, prägte mich und begleitet mich bis heute.

Sethe ist eine herausragende Figur: stark, entschlossen und unerbittlich. Sie machte mir Angst und war Vorbild zugleich. Lange nachdem ich das Buch weggelegt hatte, hatte ich mir erlaubt zu fragen, ob ich jemals den Mut würde aufbringen können, ein solches Zeugnis zu Papier zu bringen? Die andere Frage – wozu wäre ich bereit, um meine Kinder vor einem Leben in Folter zu schützen – ließ ich absichtlich unbeantwortet, in der Hoffnung ich würde mir diese Frage nie ernsthaft stellen müssen.

Morrisons ersten Roman „The Bluest Eye“ (deutsch: „Sehr blaue Augen“) las ich einige Jahre später nach „Beloved“. Die Geschichte von Pecola, einem Mädchen, das von ihrer Familie schwer misshandelt wird, machte mich sprachlos. Fast hatte ich vergessen, dass ich als Kleinkind mir auch nichts sehnlicher gewünscht hatte, als blaue Augen und blonde Haare geschenkt zu bekommen – die vermeintliche Lösung für all meine Probleme. Fast hätte ich geglaubt, dass ich mit meinem Schmerz alleine war.

Ich hatte in meiner Jugend Bücher leidenschaftlich gelesen, aber mich nie ernsthaft von Emily Brontë, Charles Dickens, Roald Dahl oder Judy Blume als Leserin angesprochen gefühlt – höchstens geduldet. Ich war auf jeden Fall in der Lage, Mitgefühl mit den Figuren ihrer Werke zu empfinden – auch ich verliebte mich in Heathcliff aus Brontës „Wuthering Heights“, und ich verabscheute Mr. Murdstone aus Dickens’„David Copperfield“. Aber ich wusste auch, dass diese Romane eine Welt porträtierten, von der ich nie einfach nur Teil sein würde. Ich würde, wenn überhaupt, immer an den Rändern bleiben.

Und selbst Bücher wie Ralph Ellisons „Invisible Man“ (deutsch: „Der unsichtbare Mann“) oder Malorie Blackmans „Noughts & Crosses“ schienen sich dezidiert an weiße Leser*innen zu richten. Toni Morrison hingegen schrieb ohne Fußnote, Glossar, Klammern oder sonstige Erklärungen. Sie schrieb für Menschen wie mich: diejenigen, die in einer weißen Gesellschaft aufwuchsen und lernten, ihre eigene Schönheit zu verleugnen; oder diejenigen, die immer wieder daran zerbrechen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht vor dem Rassismus schützen können, den sie selbst durchlebt haben.

„Ich schreibe für Schwarze“, bestätigte sie 2015 in einem Interview, „ich muss mich nicht entschuldigen.“ Dass sie diese Haltung in einer so weiß-männlich-dominierten Industrie wie der Literaturlandschaft ihr Leben lang bewahren konnte, ist bemerkenswert. Gleich zu Anfang der Karriere Morrisons wurde sowohl von weißen Literaturkritikern als auch zeitgenössischen Autoren bemängelt, dass sie weiße Subjekte in ihrer Belletristik nicht fokussierte.

„Können Sie sich vorstellen“, wurde sie 1998 in einem Fernsehinterview gefragt, „einen Roman zu schreiben, der sich nicht um race dreht?“ In diesem Kontext kann race als „Blackness“ übersetzt werden. Morrison kritisierte die Frage zu Recht. Eine ähnliche Frage wäre niemals an weiße Autor*innen von weißen Figuren gerichtet worden.

In ihrem phänomenalen Werk „Playing in the Dark“ (deutsch: „Im Dunkeln Spielen“) erklärt Morrison, wie problematisch und irreführend die Annahme ist, dass die Arbeit weißer Autor*innen race-free sei. Race-free in diesem Kontext kann als „nicht rassifiziert“ übersetzt werden. In einer Gesellschaft wie die der Vereinigten Staaten, die sich 2019 immer noch schwertut, Strukturen von Rassismus und white supremacy zu erkennen und zu thematisieren, geschweige denn ihnen entgegenzutreten, hatte Morrison sie bereits 1992 beschrieben. Ihre Analysen der Strukturen, die erlauben, dass die weiße Norm unmarkiert bleibt, vor allem die Folgen davon, sind im deutschsprachigen Raum genauso relevant.

Rassismus war allerdings nicht Morrisons Thema. Obwohl Rassismus eine Lebensrealität ihrer Figuren ist, wehrte sie sich dagegen, „Antirassismus“ zum ausschließlichen Fokus ihrer Arbeit zu machen. Sie erklärte ihn – Rassismus – zum Problem der Weißen. „Wenn du nur groß sein kannst, weil eine andere Person auf den Knien ist“, sagte sie, „dann hast du ein ernstes Problem. Und die Weißen haben ein sehr ernstes Problem.“

Rassismus bildet für die Betroffenen eine immerwährende Hintergrundmusik, die kaum zu überhören ist. Weiße Menschen, die etwa behaupten, jene Zeiten wären vorbei, sind dabei, ihn aktiv zu übertönen. Dies führt im besten Fall zu einem Empathiegefälle. Im schlimmsten Fall zur Abwertung, zum Hass, zur Entmenschlichung.

„Die Funktion, die sehr ernste Funktion des Rassismus ist die Ablenkung. Es hält dich davon ab, deine Arbeit zu tun. Es lässt dich immer wieder erklären, warum du so bist. Jemand sagt, dass du keine Sprache habest und du verbringst 20 Jahre damit zu beweisen, dass du sie hast. Jemand sagt, dass dein Kopf nicht richtig geformt sei, also findest du Wissenschaftler*innen, die an der Tatsache arbeiten, dass er es ist. Jemand sagt, dass du keine Kunst hast, also baggerst du das aus. Jemand sagt, dass du keine Königreiche hast, also schaufelst du das aus. Aber nichts davon ist notwendig. Es wird immer noch eine weitere Sache geben.“

Morrison beschäftigte sich sowohl in ihrer Belletristik als auch ihren Essaybänden mit Geschichte und Trauma. Sie zeigte uns, wie fest der Griff der Vergangenheit an unserer Kehle sitzt. Von Morrison habe ich gelernt, mich nicht zu verstellen. Ich bewunderte sie für ihre Haare, weder geglättet noch gefärbt; ich bewunderte sie für ihre Direktheit (nach der Frage, ob sie nicht ihren Platz im Zentrum haben wollte, antwortete sie: „Nun, ich werde hier draußen am Rand bleiben und das Zentrum nach mir suchen lassen!“).

Und jetzt weiß ich, dass das Mädchen, das damals von blonden Haaren geträumt hatte, eines Tages lange graue Afrohaare haben wird. Und ich, als das Mädchen, das damals still und schüchtern sich von den Mitschüler*innen mobben ließ, steht jetzt auch am Rand und kümmert sich nicht weiter um das Zentrum.

In „Beloved“ schrieb sie: „Ich und du, wir haben mehr Gestern als alle anderen. Wir brauchen eine Art Morgen.“ Mit einer Leidenschaft und Virtuosität, die 1993 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, imaginierte sie für Menschen der afrikanischen Diaspora eine Art Morgen.

Rassismus war die Lebensrealität ihrer Figuren, jedoch nie Morrisons Thema. Sie machte ihn zum Problem der Weißen

Toni Morrison, wir vermissen Dich jetzt schon – Ashé!

Du bleibst durch Deine Worte für immer bei uns – Ashé!

Ruhe in Frieden, Queen.

Ashé!

Ashé!

Ashé!

Sharon Dodua Otoo ist Schwarze Britin, Mutter, Aktivistin und Schriftstellerin. Mit dem Text „Herr Gröttrup setzt sich hin“ gewann Otoo 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis.