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Diese Kartoffel hat die Größe dreier Wildschweine

Vergnügliche Szenen von morgen auf alten Schokoladenbildchen: Die kleine „Blackbox“-Ausstellung „Reaching Out for the Future“ im Bröhan-Museum

Von Jenni Zylka

Am letzten Montag (lateinisch dies Lunae ) ist wieder eine Sonde Richtung Mond gestartet. Die „Chandrayaan-2“ stammt aus Indien, das Land will damit die vierte Nation werden, der ein Ausflug zum Erdtrabanten gelingt – im September soll die unbemannte Raumkapsel auf der Mondoberfläche landen. Weitgehend sicher ist jedoch, dass die „Chandrayaan-2“ dort nicht auf Seleniten stoßen wird. Diese angeblichen Mondmenschen wurden einst von H. G. Wells für seinen 1901 erschienenen Roman „The First Men in the Moon“ erdacht. Ein Jahr später schuf Georges ­Méliès den 15-minütigen Film „Die Reise zum Mond“. Darin fliegen sechs bärtige Astronauten unter der Leitung eines „Professor Barbenfouillis“ (gespielt von Méliès selbst) samt ihrer Regenschirme in einer Rakete los und stoßen in exotischen Mondlandschaften auf ebenjene „Seleniten“, garstige, erstaunlich gelenkige Maskenwesen in gestreiften Westen.

Neues Gesicht

Dass einer der ersten Spielfilme und eine der erfolgreichsten Romanreihen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus dem Science-Fiction-Bereich stammen, ist dennoch nicht verwunderlich: Um die Jahrhundertwende, befeuert durch die sogenannte zweite industrielle Revolution und den damit einsetzenden Gebrauch von Elek­trizität, bekam die Zukunft ein neues, vollautomatisches Gesicht und beflügelte die Visio­nen und Fantasien der Menschen. Die kleine „Blackbox“-Ausstellung „Reaching Out for the Future“ lässt diese Visionen in zwei Räumen des Bröhan-Museums Revue passieren mithilfe von Filmausschnitten, Büchern, Plakaten, historischen Postkarten – und Schokoladensammelbildchen.

In einer Vitrine liegt ein von der Kölner Schokoladendynastie Gebr. Stollwerck 1898 produziertes Sammelalbum aus, es enthält kleinformatige, gemalte, bunte Zukunftsszenen, die recht modern anmuten: Auf einer Stadtszene mit dem Titel „Im Jahre 2000“ erkennt man eine breite Straße mit (zu) vielen Autos, links und rechts ragen Wohnhäuser in den Himmel, der wiederum von irren Fluggeräten wimmelt. Der passende Ausschnitt aus Fritz Langs „Me­tropolis“ mit der futuristischen, von Verkehrsadern durchzogenen Großstadt ist längst ein Klassiker und wurde unter anderem in Luc Bessons Bühnenbild für „Das fünfte Element“ zitiert.

Doch die Ausstellung behandelt auch weniger bekannte re­trofuturistische Ideen, beispielsweise in Bezug auf Ernährung: „Düngt mit Kalkstickstoff!“ ist die Überschrift einer absurden, durch Fotomontagen entstandenen Postkartenreihe, deren Motive (Bauer plus Pferdewagen, Familie am heimischen Küchentisch, Bauern bei der Kohlernte) aufgrund der Dimensionen ins Auge fallen – die Kartoffel, in die der Hausherr sein Messer rammt, ist groß wie drei Wildschweine; der Kohl, den die Landwirte abhacken wollen, ragt hoch wie ein Baum; und bei einer „Landwirtschaftlichen Ausstellung“ schauen Männer mit Hut ehrfürchtig auf drei Meter lange und entsprechend dicke Gurken.

Das durch seine gesundheitsschädlichen Folgen längst in die Kritik geratene, 1901 vom Chemiker und Unternehmer Albert Frank in Berlin entwickelte Düngemittel Caliumcyanamid (Kalkstickstoff) galt damals als legitime Hoffnung gegen den Hunger. Die Ausstellung bietet – aus Platzgründen – nicht viel Hintergrund für diese Geschichte und überlässt die Recherche den Interessierten. Bedrückend aktuell scheinen daneben ­französische Postkartenmotive den Klimawandel vorauszusehen – unter dem Titel „Si Paris il y avait la mer“ wird der Eiffelturm von Wellen umtost. Der Grund für die düsteren Prognosen war damals allerdings die Angst vor dem Einschlag des Halleyschen Kometen, der, in seiner üblichen 75-Jahre-Runde, 1910 das Ende der Welt einleiten sollte.

Gemeinsam ist den gezeigten dystopischen, humorvollen, realistischen oder grotesken Zukunftsvisionen, dass sie – trotz genialer Ideen wie der „Bier-Rohrleitung von München“, deren Hähne den Bewohner*innen eines „Zukunftshotels“ direkt in die durstigen Schlunde reichen – das Prinzip von Digitalisierung und Globalisierung nicht erahnten. Der Zukunftsmensch der Vergangenheit bewegt sich zwar dank technischer Hilfsmittel schneller durch den (Welt-)Raum, er trifft vierbrüstige „Marsfrauen“, verwandelt sich in einen Cyborg und kommuniziert über das „Telephon“.

Die in der Ausstellung implizierte Unvorstellbarkeit einer nichtanalogen Welt ist jedoch der Grund dafür, dass der aktuelle technische Umbruch „digitale Revolution“ genannt wird. Denn dass es vor allem digitalisierte Informa­tio­nen sind, die ohne Zeitverlust reisen, und dass die Abhängigkeit von ihnen die Gesellschaft im 21. Jahrhundert definiert – das war selbst den avantgardistischsten Vi­sio­nä­r*in­nen damals wohl einfach zu utopisch.

Bis 27. Oktober, Bröhan-­Museum, Di.–So., 10–18 Uhr.

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