: Indigene Vielfalt an der Uni
Die brasilianische Spitzenuni Unicamp möchte die Zahl ihrer indigenen Studierenden erhöhen – und führt für sie eine eigene Aufnahmeprüfung ein. Auch eine Quote für Indigene gibt es schon. Vielen geht das noch nicht weit genug. Ein Besuch
Aus Campinas Lisa Magdalene Pausch
Mit 98,25 Prozent befindet sich der Großteil Indigener Schutzgebiete im Amazonasgebiet. Wie lässt sich diese Konzentration erklären? Kreuzen Sie die korrekte Antwort an.
a) Es ist die Herkunftsregion aller indigenen Völker im Land. Seit Beginn der Kolonialisierung haben sie schon immer nur auf diesem Gebiet gelebt.
b) Es ist die einzige Region, die ein ausreichendes Ausmaß an Land bietet, um die indigene Bevölkerung aus dem ganzen Land zu beherbergen.
c) Es ist die Region, die historisch gesehen ein Zufluchtsort wurde und die indigene Bevölkerung unter dem Druck der Kolonialisierung aus den anderen Regionen des Landes aufnahm.
d) Es ist die Region, die Indigene als Migranten auf der Suche nach Gold, Diamanten und anderem Reichtum aus den anderen Regionen des Landes anlockte.
Diese Aufgabe war Teil der diesjährigen Aufnahmeprüfung an der staatlichen Universität Unicamp in Campinas, einer der renommiertesten Hochschulen Brasiliens. Jahr für Jahr landet die Universität in Rankings auf einem Spitzenplatz in Lateinamerika. Doch in einem Punkt ist die Unicamp noch längst nicht top: bei der Zahl ihrer indigenen Studierenden. Vergangenes Jahr haben gerade mal 7 von ihnen die Aufnahmeprüfung geschafft. 7 erfolgreiche Bewerber*innen auf rund 3.340 Studienplätze.
Deshalb hat die Hochschule erstmals eigene Aufnahmeprüfungen für Indigene eingesetzt. Während es in den „normalen“ Aufnahmeprüfungen regelmäßig um Namen wie Stephen Hawking oder Kopernikus geht, stehen in dieser Prüfung für Indigene Textausschnitte von dem Intellektuellen Ailton Krenak oder einer Gruppe aus Dozent*innen der Guaraní. Auch allgemeines Wissen über die Abholzung des Regenwalds, die traditionelle Heilkunst der Yanomami oder das Fischereihandwerk bei den Tupinambá wurde abgefragt.
José Alves Freitas Neto, Koordinator der Aufnahmeprüfungen und Dozent für Geschichte an der Unicamp
Einer, der viele dieser Fragen beantworten konnte, ist Walace Piui Adilson. „Die Prüfung bezieht indigenes Wissen ein“, sagt der 28-Jährige. „Die Aufgaben kann ich gut verstehen, weil sie meiner Realität entsprechen.“ Adilson zählt sich selbst zu der Ethnie der Krenak, einer von mehr als 305 in Brasilien. Das erkennt man an dem gewebten Perlenarmband um sein Handgelenk, ein „Zeichen für Widerstand“, wie Adilson sagt. Ansonsten trägt er Jeans und Turnschuhe.
Adilson spricht Portugiesisch, aber auch etwas Krenak und Kaingang, die Sprachen seiner Eltern. Die wurden zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur vertrieben und ließen sich in einem indigenen Schutzgebiet 500 Kilometer von São Paulo nieder. In dem Dorf, in dem Adilson groß wurde, leben 300 Menschen. Es gibt eine Grundschule mit rund 60 Schüler*innen. Dort will Walace Piui Adilson als Lehrer arbeiten.
Deshalb wohnt der Student seit Februar in der Stadt Campinas, gut eineinhalb Autostunden entfernt von der Megalopole São Paulo. Hier liegt die Unicamp auf einem abgelegenen, grünen Campus mit Wohnheimen, Mensen und einer eigenen Poststelle. 35.000 studieren hier, fast die Hälfte von ihnen sind Doktorand*innen. Das Eingangstor zu dieser Welt sind traditionell die Aufnahmeprüfungen, viele lernen monatelang dafür und nehmen Nachhilfe. Oder sie waren auf einer privaten Sekundarschule und sind damit per se besser vorbereitet als die Absolvent*innen öffentlicher Schulen.
Gerade Schwarze und Indigene fallen aus diesem System seit Jahrhunderten raus. „Im Schnitt schaffen es nur 4 bis 7 Indigene mit der regulären Prüfung pro Jahr an die Unicamp“, sagt José Alves Freitas Neto, 48, Koordinator der Aufnahmeprüfungen und selbst Dozent für Geschichte. „In diesem Jahr hingegen sind es 66.“ Eine Entwicklung, die Freitas begrüßt: „Für uns bedeutet mehr Diversität auch eine Zunahme an Forschung, Kultur, Miteinander. Die Universität hört gleichzeitig auf, so weiß und elitär zu sein.“
Freitas als Weißer auf diesem Posten stellt sich mit dieser Aussage klar gegen den aktuellen Diskurs der ultrarechten Regierung unter Jair Bolsonaro. Dessen Bildungsminister Abraham Weintraub wettert gegen den vermeintlichen „Kulturmarxismus“ an Universitäten und fror Gelder für Unterhaltungskosten an den bundesstaatlichen Universitäten ein, auch einen Teil der Förderungen, die bei bedürftigen Studierenden über den Verbleib an der Uni entscheiden. Im Mai gingen Hunderttausende in mehr als 170 Städten des Landes dagegen auf die Straße. „Es geht uns auch um Sichtbarkeit“, sagt Freitas. „Es wird viel über Indigene geredet, zu der Zeit, als die Portugiesen kamen. Es scheint, als hätten sie darüber hinaus keine Geschichte, keine Kultur. Ein großer Teil der Zukunft unseres Planeten hängt von dem Kampf dieser Völker ab. Wir haben hier auch die Möglichkeit, diesen Kampf zu stärken.“
Die Unicamp ist nicht die erste brasilianische Uni, die spezielle Aufnahmeprüfungen für Indigene eingeführt hat. Die bundesstaatliche Universität in Brasília etwa führt Aufnahmeprüfungen seit 2006 in Zusammenarbeit mit der Indigenenbehörde Funai durch. Und im Amazonasgebiet bietet die Universität von Roraima drei Studiengänge, die speziell auf Indigene ausgerichtet sind, darunter „Indigenes Landmanagement“. Der Unterschied zu dem Dutzend anderer Hochschulen, die heute auch Aufnahmeprüfungen für Indigene anbieten, ist, dass die Öffnung einer renommierten staatlichen Universität eine enorme Strahlkraft entfaltet. Und: Bei der Unicamp bekommen indigene Studierende ein komplettes Stipendium für alle Kosten.
Davon profitiert Tamansá Kayaroa von den Baré, der an der Unicamp Agraringenieurswesen studiert. Von seiner neuen Universität erhält er umgerechnet 100 Euro für ein Zimmer im Wohnheim, 210 Euro für Fahrtkosten und sonstige Ausgaben. Mensa und Nachhilfestunden sind für ihn sogar komplett frei. Und: Für die Aufnahmeprüfung musste Tamansá Kayaroa nicht eigens anreisen. Kayaroa kommt aus São Gabriel de Cachoeira an der Grenze zu Kolumbien. Die Stadt liegt Tausende Kilometer nördlich vom Bundesstaat São Paulo und der Elite-Uni Unicamp. Neun von zehn Menschen hier sind Indigene. Allein 47 der 66 neuen Studierenden kommen aus dem Staat Amazonas.
Eine Fahrt bis nach Campinas ist für viele hier zu aufwendig. Allein die Fahrt über den Amazonas bis zur nächsten Provinzhauptstadt Manaus könne je nach Wasserstand im Fluss bis zu einer Woche dauern, schätzt Kayaroa. Doch Unicamp kam mit den Prüfungsunterlagen in seine Heimatstadt. Das habe vieles erleichtert, sagt der 26-Jährige. Auch er möchte nach seinem Abschluss in seine Stadt zurückkehren und seiner Familie helfen, die auf einem Stück Land Maniok, Ananas und Mangos pflanzt. „Ich könnte meinen Eltern moderne Bewässerungstechnik zeigen, bisher machen sie das noch von Hand.“
Myma Cavalcante hat ganz andere Motive. Die 19-Jährige ist Pankará und nun Philosophiestudentin. Die Uni sei auch ein Ort, um sich mit ihren Wurzeln zu beschäftigen. Sie sei in der Stadt aufgewachsen, ihre Mutter arbeitete für die evangelikale Kirche, sie selbst sei Agnostikerin und hatte mit der indigenen Bewegung bisher nicht viel am Hut. Jetzt möchte sie die indigene Sprache Tupí lernen. „Ich lese auch, um mich argumentativ verteidigen zu können.“ Neben ihren Uni-Kopien von Kant und Aristoteles liegen Bücher zur indigenen Bewegung. Sie hat sich den Stapel aus der Bibliothek ausgeliehen. Seit Kurzem beschäftigt sich die Studentin mit traditionellen Körperbemalungen und ihrer Bedeutung, trägt sie auch auf Demonstrationen. „Dann haben ein paar Leute geguckt und gesagt: Guck mal, die Indianerin, und mit ihrem Mund Geräusche gemacht. Da fehlt es einfach an Wissen.“
Myma Cavalcante ist in politischen Hochschulgruppen aktiv mit einer klaren Mission: „Wir wollten zeigen, dass wir Indigene unterschiedlich voneinander sind. Und die Leute sollen nicht von Indianern sprechen und auch nicht von Stamm.“
Dass heute 20 verschiedene indigene Ethnien an der Unicamp vertreten sind, ist auch dem Druck der Studierenden zu verdanken. Im Jahr 2016 besetzten sie wochenlang das Rektorat und forderten unter anderem eine Quote für Schwarze, PoC und Indigene. Nun hat die Uni die Quote für Schwarze und PoC mit 38 statt den vorgeschriebenen 25 Prozent übererfüllt. Die Quote von derzeit 2 Prozent für Indigene soll sich in Zukunft verdoppeln. Sie richtet sich, anders als die Quote für PoC, nicht nach der ethnischen Zusammensetzung im Bundesstaat, die niedriger wäre.
Yara Frateschi, 46, Philosophiedozentin an der Unicamp, geht das noch nicht weit genug. Ihrer Meinung nach müsse sich die wachsende Vielfalt an der Universität auch in den Lehrplänen widerspiegeln, so Frateschi. „Wir müssen unsere Praktiken, unseren Kanon ändern, er wurde gemacht und getestet von weißen Menschen“, sagt die Philosophin Frateschi. Sie bietet in diesem Jahr zum ersten Mal ein Seminar mit ausschließlich Schwarzen Autorinnen an. „Wir hatten einen Studenten, der wollte zu afrikanischen Autor*innen eine Doktorarbeit schreiben, aber es gab einfach niemanden, um ihn zu betreuen.“
Sie sei gespannt auf den neuen Dialog, der da entsteht, „wir lernen gerade viel dazu“. Spricht man mit Studierenden der Unicamp, wird schnell klar, wo sie Handlungsbedarf sehen. So würde „Koloniale Geschichte“ oder „Brasilianische Geschichte nach der Unabhängigkeit“ nie aus der Sicht von Indigenen erzählt. Ebenso wie bei der Textauswahl Schwarze Autor*innen außen vor bleiben.
Es gibt allerdings noch einen weiteren Wermutstropfen: Das Medizinstudium bleibt für Indigene vorerst verschlossen. In den über fünfzig Jahren seit Gründung der Universität hat es noch kein einziger indigener Student hier rein geschafft. Man habe Sorge, ob die Studierenden mit indigenen Wurzeln das Studium schaffen könnten, sagt der zuständige Koordinator Freitas. Er versichert aber, dass bis 2021 alle Kurse geöffnet würden.
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