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„Entwurzelung ist ein Faktor“

Wettbüros finden sich oft dort, wo auch viele Migranten leben: Kein Zufall, wie Jana Lamprecht und Shadi Alsaadi von Fip – dem Frühinterventionsprojekt für Glücksspieler mit Migrationshintergrund – wissen

Hilfreiche Kontake

Beratung FIP, das Frühinter­ventionsprojekt für Glücksspie­ler_innen, berät in Deutsch, Arabisch, Türkisch, Russisch, Vietnamesisch, Englisch und Polnisch. Das Büro ist in der Urbanstraße 70 nahe Hermannplatz, Info mit weiteren Kontaktmöglichkeiten: fip-gluecksspiel.de. Beratung gibt es auch im Kreuzberger Café Beispiellos, Wartenburgstraße 8. www.cafe-beispiellos.de.

Beratend Jana Lamprecht, 36, hat Gesundheitswissenschaften studiert und vor FIP bereits in einer anderen Beratungsstelle für Glücksspielsucht gearbeitet. Shadi Alsaadi, 34, hat eine Weiterbildung zum Gesundheitslotsen und ein Praktikum beim Drogennotdienst absolviert. Bevor er 2015 nach Deutschland kam, war er in Syrien beim Roten Halbmond.

Interview Alke Wierth

taz: Frau Lamprecht, Herr Alsaadi, warum ein Frühinterventionsprojekt speziell für Glücks­spieler*innen mit Migrationshintergrund?

Jana Lamprecht: Frühintervention deshalb, weil wir Menschen erreichen wollen, bevor eine Spielsucht entsteht. Aus Erfahrungen anderer Projekte wissen wir, dass beim Thema Glücksspiel ein Beratungsbedarf von Menschen mit Migrationshintergrund besteht, es aber wenig Angebote gibt. Deshalb haben wir FIP entwickelt.

Haben Menschen mit Migrationshintergrund ein höheres Risiko, was Spielsucht angeht?

Lamprecht: Wir haben beobachtet, dass immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die bestehenden Beratungsstellen kommen. Und viele Spielcasinos und Wettbüros siedeln sich dort an, wo viele Migrant*innen leben. Aus wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass Migration ein Risiko darstellt.

Inwiefern?

Lamprecht: Entwurzelung ist ein Faktor, also wenn Menschen aus einem anderen Land kommen, die Heimat vermissen, die Familie nicht mehr da ist. In manchen Herkunftsländern gab es vielleicht keine Spielcasinos oder nicht so offen wie hier. Dann ist auch kein Umgang damit erlernt worden. Und hier ist die Verfügbarkeit groß, nicht nur durch die Spielcasinos und Wettbüros, wie sie hier rund um den Hermannplatz gehäuft zu finden sind, sondern auch über das Internet.

Sie reden von Menschen, die erst relativ kurz hier sind?

Lamprecht: Nicht nur. Auch unter Einwander*innen der 2. und 3. Generation gibt es Menschen, in deren Umfeld andere Lebensgewohnheiten und innerfamiliäre Regeln gelten. Da spielt dann etwa Scham oft eine große Rolle, wenn es darum geht, sich mit Spielsucht in der eigenen Familie auseinanderzusetzen und Beratung und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch da ist ein spezielles Angebot, das in vielen verschiedenen Sprachen berät, wichtig.

Sie sitzen am Hermannplatz, wo es viele Spielcasinos und Wettbüros gibt – und Ihr Büro sieht selbst ein bisschen wie ein Café aus. Mit Absicht?

Lamprecht: Hier war bis vor Kurzem ein Waffelladen, und wir haben einen Teil der Inneneinrichtung übernommen. Das kommt uns zupass, um ein niedrigschwelliges Ambiente anzubieten. Viele der Spielcasinos sehen ja auch wie Cafés aus, wo man Tee trinken und plaudern kann, und gleichzeitig hängen Spielautomaten an der Wand. Bei uns hängen Tafeln mit Denkanstößen zum Thema Spielsucht.

Shadi Alsaadi: Ich spreche Arabisch, und hier im Umfeld sind natürlich viele Menschen aus meiner Community. Aber unser Angebot richtet sich berlinweit an alle Menschen mit Migrationshintergrund. Wir beraten in sieben Sprachen, teils mit Dolmetscher.

Was bieten Sie hier an?

Lamprecht: Wir machen Erstberatung, gucken also zunächst, wie das Spielverhalten ist, ob bereits gravierende Probleme vorliegen oder man schon von einer Sucht sprechen kann. Oft kommen auch Angehörige zu uns, die Rat suchen.

Shadii Alsaadi: Und wenn wir merken, dass das Problem tiefer liegt, begleiten wir Menschen zu entsprechenden anderen Einrichtungen, auch mit Dolmetscher*innen.

Woran merken Sie, wie tief das Problem schon liegt?

Lamprecht: Das ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren mit fließenden Übergängen zwischen problematischem Spielverhalten und Sucht: wenn etwa bereits jahrelang gespielt wird, viel Geld eingesetzt wird, wenn keine anderen Freizeitbeschäftigungen mehr bestehen, wenn gelogen wird, um von Angehörigen Geld zu bekommen, wenn es hohe Schulden gibt, die Miete nicht mehr gezahlt wird – das sind Indikatoren.

Gehen Sie auch in die umliegenden Casinos und Wettbüros?

Alsaadi: Nein, aber wir machen etwas anderes: Wir gehen auf die Märkte, zum Beispiel hier auf dem Hermannplatz, verteilen da unsere Flyer und reden mit den Menschen über Glücksspiel und unser Hilfeangebot. Und wir machen Schulungen für Multiplikator*innen, die Kontakte zu den Familien haben und dort auch Vertrauen genießen, etwa für die Stadtteilmütter, damit die unser Angebot und das Wissen über Spielsucht weitertragen.

Wie sind die Reaktionen, wie ist das Problembewusstsein?

Alsaadi: Vielen ist nicht bekannt, dass Glücksspielsucht eine Krankheit ist, deren Behandlungskosten übernommen werden. Und für viele gerade aus der arabischen Community ist es auch ein Tabuthema.

Warum?

Alsaadi: Weil es für sie etwas Schlechtes ist und sie nicht wollen, dass bekannt wird, dass sie selbst oder Angehörige damit Probleme haben. Deshalb erklären wir ihnen, dass es vertrauenswürdige professionelle Hilfe gibt, kostenlos und anonym.

Sind Frauen unter den Betroffenen?

Lamprecht: Ja, es gibt auch Frauen, die spielen, besonders der Anteil der Jüngeren und der Automatenspielerinnen nimmt zu. Aber es gibt immer noch wesentlich mehr glücksspielende Männer als Frauen.

Sind Geflüchtete eine Risikogruppe?

Alsaadi: Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie groß das Problem unter Geflüchteten ist. Glücksspielsucht manifestiert sich nicht so schnell wie Drogenabhängigkeit. Wir schulen deshalb auch Mitarbeiter*innen in Flüchtlingsunterkünften und hören da oft, dass Bewohner Probleme mit Glücksspiel haben. Wir können also nicht sagen, dass es da kein Problem gibt. Auch deshalb wollen wir früh intervenieren.

Welche Hilfe können Sie Süchtigen anbieten? Gibt es stationäre Einrichtungen für Glücksspielsucht?

Lamprecht: Ja, die gibt es. Wir als Erstberatungsstelle begleiten in dem Fall in andere Einrichtungen wie das Café Beispiellos, die die Kontakte zu den Einrichtungen haben und dann die passende weitere Vermittlung übernehmen.

Haben Sie beide schon mal gespielt?

Lamprecht: Nicht am Glücksspielautomaten, aber Lotto.

Alsaadi: Einmal habe ich Geld in einen Glücksspielautomaten geworfen. Aber ich habe nichts gewonnen.­­

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