: Tauchgang ins Ungewisse
Auf dem Festival „The present is not enough“ im HAU geht es um queere Geschichtsnarrative. Geschichten aus Polen brachte der Regisseur Michał Borczuchs in seinem Stück „Untitled (Together Again)“ mit
Von Agata Hofrichter
Sie wandeln im Halbdunkel, teilen Geschichten. Erzählen von der transsexuellen Person, die von der Brücke in die Weichsel sprang, weil sie die Ärzte nicht mehr aushielt. Von den Aktivisten, die danach eine Regenbogenflagge an ebendieser Brücke befestigen wollten, von Hooligans daran gehindert wurden und es am Ende doch schafften. Oder von einer katholischen Kindheit, also einer, in der Beichte und Kommunion Pflicht waren.
Intimität will sich zwischen Ania, Dominika und Paweł – den drei Figuren in Michał Borczuchs Theaterstück „Untitled (Together Again)“, zu Gast auf der Bühne im HAU 3 – dennoch nicht einstellen. Immer wieder bricht unterdrückte Sexualität durch den Lack der Worte. Küsse und Gesten verlieren sich in Andeutungen, in Lust mit Beigeschmack. Dominika vergräbt ihr Gesicht in Anias Schoß. Paweł streift seine Hose ab und küsst Ania – zur Sicherheit durch ein Stück Stoff. Einen Augenblick lang bilden die drei eine Einheit, gleich wird sie sich auflösen.
Nur ein paar Minuten ist es her, da ist ein Stichwort gefallen. Aids. Paweł hat es ausgesprochen, als er von seiner ersten Begegnung mit der Krankheit erzählte. Jetzt steht es im Raum in all seiner Präsenz, wie ein vierter unsichtbarer Akteur. Es ist eines der Worte, die auch noch im Jahr 2019 Kopfkino triggern, wo ein positiver HIV-Test längst kein Todesurteil mehr sein muss. Kaum eine andere Krankheit ist historisch, emotional, auch symbolisch derart aufgeladen. Keine wird häufiger mit Homosexualität in Verbindung gebracht.
Worüber geschwiegen wird
Dieses Wort, das seine große Medienkarriere schon hinter sich hat, holt Borczuch auf die Bühne, um das Jetzt in seinem Heimatland Polen verständlich zu machen. Inspiriert durch das Werk von Félix González-Torres, einem homosexuellen kubanischen Künstler, der 1996 an Aids starb, sammelt der Regisseur Fragmente kollektiver und persönlicher Geschichte und fragt: Kann aus polnischer Perspektive überhaupt über die Aids-Epidemie der 80er Jahre und Queerness gesprochen werden?
Bildung ist das Fundament von Umdenken und Fortschritt. Doch in der polnischen Bevölkerung klaffen Wissenslücken. Traditionell findet die Aufklärung über HIV und LGBTIQ-Belange in der queeren Community statt und erschöpft sich somit dort. „Von staatlicher Seite gibt es keine Politik, die auf Aufklärung und Prävention abzielt“, sagt Borczuch, der selbst schwul ist. Es ist ein Problem, das sich auch aus dem nach wie vor starken Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik und Gesellschaft ergibt. Nahezu 90 Prozent der Polen sind Katholiken.
Was die Kirche ihnen durch Medien und Heilige Messen einflüstert, gilt vielen, besonders älteren Gläubigen, als unumstößlich. Und von Empfängnisverhütung und nicht heteronormativen Lebensentwürfen hält die katholische Kirche bekanntlich wenig.
Seit sie im Oktober 2015 die Wahl gewann, trägt die nationalkonservative Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) die Demokratie Stück für Stück ab. Angst und Hass haben sich dabei als nützliche, weil universelle Instrumente erwiesen. Mussten vor ein paar Jahren die Geflüchteten als Feindbild herhalten, heißen die neuen Reizworte „Gender“ und „LGBT“. „Zum Glück weiß niemand in der PiS-Regierung, was das Wort ‚queer‘ bedeutet“, scherzt Borczuch, wobei sich ein bitterer Zug um seinen Mund legt. „PiS hetzt seine Wähler auf Homosexuelle, nicht direkt, aber mittelbar.“ Zuletzt erhitzten sich die Gemüter an der progressiveren Hauptstadt Warschau, wo der Bürgermeister Rafał Trzaskowski die LGBT+-Charta unterzeichnete, die zumindest lokal die queere Community stärkt. Zentrale Ziele sind die Einführung von Sexualkunde an Schulen gemäß WHO-Standards und der Kampf gegen Homophobie und Diskriminierung. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński witterte sogleich eine Chance, Stimmen für die Parlamentswahl im Herbst zu sichern, und attackierte die Charta, die seiner Meinung nach die traditionelle Familie gefährde.
Man erkennt eine Gesellschaft an der Art, wie sie Fremde, auch das Fremde behandelt. Ein queeres Theaterfestival wie das, welches aktuell im HAU stattfindet, kann sich Borczuch in Polen nicht vorstellen. „Wir sind in Polen immer noch auf einer Stufe, auf der die allgemeine Meinung lautet, dass niemand so ein Festival braucht.“
Noch bis zum 30. Juni schafft „The Present is Not Enough – Performing Queer Histories and Futures“ Öffentlichkeit für queere Kultur. Das Programm umfasst Performance, Theater, Tanz, Konzerte und Kunstausstellungen. „Untitled (Together Again)“ wird im November in Warschau gezeigt, dann als Performance-Installation im Zentrum für Zeitgenössische Kunst Ujazdowski.
„The Present is Not Enough – Performing Queer Histories and Futures“, bis 30. Juni an allen drei HAU-Theatern
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