: „Die meisten gucken bei Hass weg“
Anlässlich von hundert Jahren Institut für Sexualwissenschaft und fünfzig Jahren Stonewall-Aufständen veranstaltet das HAU das transdisziplinäre Festival „The Present Is Not Enough – Performing Queer Histories and Futures“. Kurator Ricardo Carmona im Interview
Interview Stefan Hochgesand
taz: Queere Storys sind in der Mainstream-Kultur angekommen, zum Beispiel in Spielfilmen und Netflix-Serien. Es gibt aber auch Kritik, diese Geschichten seien zu glatt, massenkompatibel und konventionell.
Ricardo Carmona: Ich glaube, diese Sichtbarkeit ist zunächst mal positiv. Obwohl sich dabei leider weiße, westeuropäische Sichtweisen zu oft wiederholen. Die anderen Geschichten müssen aber auch präsent sein! Darum geht es uns bei unserem Festival.
Warum ist die Gegenwart denn nicht genug, wie es im Festivaltitel heißt?
Der Titel meint, dass in der Gesellschaft noch so einiges zu tun bleibt in Sachen Gleichheit, nicht bloß juristisch. Besonders nach dem Gesetz zur Ehe für alle entstand der Eindruck, jetzt sei ja alles erreicht und die Queers sollten nun endlich mal Ruhe geben. Aber: Queere Teenager werden in Schulen gemobbt und attackiert. Die Selbstmordrate queerer Teenager ist enorm. Und auch in Berlin nehmen Hassverbrechen gegen queere Menschen zu.
Wenn man sich in Ihrer Festivalzeitung die gutgelaunten Fotos queerer Menschen von vor hundert Jahren anschaut, meint man fast, damals seien die Dinge schon besser gewesen als heute.
Besser würde ich nicht sagen. Aber ja, wir wollen der Geschichte Tribut zollen. Fotos queerer Aktivist*innen während der Weimarer Republik nach der Gründung des Hirschfeld-Instituts 1919 in Berlin – das war schon ein sehr besonderer Moment in der Geschichte. Auch wenn wir wissen, was danach kam. Die Zeit, in der wir leben, kommt nicht aus dem Nichts. Sie hat eine Geschichte und auch eine queere Geschichte. Die Mehrheit der Gesellschaft weiß kaum etwas darüber, auch nicht über die Stonewall-Aufstände von 1969. Wir wollen diese beiden Jubiläen – hundert Jahre Hirschfeld-Institut, 50 Jahre Stonewall – zum Anlass nehmen, über queere Geschichte nachzudenken: Was sind queere Archive, in denen Quellen lagern? Und selbst innerhalb der queeren Geschichte kommen viele Narrative bisher nicht oder kaum vor.
Welche sind das?
Queere Geschichte wird bisher dominiert von einem westlichen, oft US-amerikanischen Standpunkt. Genau da wollen wir mit dem Festival ansetzen – um andere Narrative nach vorne zu bringen. Wir machen zum Beispiel eine Ausstellung zusammen mit dem Schwulen Museum, ein Geschichtsprojekt des polnischen Künstlers Karol Radziszewski. Während der letzten Jahre hat er in Ost- und Mitteleuropa daran gearbeitet, ein queeres Archiv zusammenzutragen. Besonders aus Objekten von vor 1989. Die Art und Weise, wie Queers in den USA für ihre Rechte gekämpft haben, lässt sich nicht einfach übertragen auf die Ukraine.
Man hört immer wieder das Argument, Queertheorie sei sehr akademisch und schließe dabei nicht wenige Menschen aus.
Deshalb finde ich persönlich es auch so attraktiv, mit Performances zu arbeiten. Sie machen andere Wege frei, um die Realität zu verstehen. Was auf der Bühne passiert, bezieht sich immer auf das, was in der Gesellschaft geschieht. Ich kenne die Kritik gegenüber dem akademischen Ansatz. Aber dabei sollte man nicht vergessen, dass wir über sehr Konkretes sprechen: Mobbing auf dem Schulhof, Hassverbrechen in den Straßen. Die Gewalt, der queere Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. Das ist nicht akademisch-abstrakt, sondern knallharte Realität – und wir sind alle Teil davon.
Das zeigt auch die Theaterperformance „Burgerz“ von Travis Alabanza auf dem Festival.
Ausgangspunkt ist, dass Travis Alabanza in London Opfer eines transfeindlichen Angriffs wurde. Ein Mann warf einen Hamburger auf Travis, was ihn*sie so sehr schockierte und durcheinanderbrachte, dass sie*er zu Boden fiel. Wir sprechen von London, es standen also Unmengen Menschen drum herum. Niemand hat Travis geholfen. Die Performance, die daraus entstand, handelt vom Hass, der sich auf Straßen breitmacht. Die meisten gucken weg.
Carlos Motta wiederum hat Videoporträts queerer Geflüchteter erstellt.
Eine Interviewserie mit sehr persönlichen Perspektiven. Sehr konkret und intensiv. Die Geflüchteten berichten, unter welchen Umständen sie ihre Heimatländer verlassen mussten. Meistens wegen ihrer Gender-Identität oder sexuellen Orientierung. Als sie in den Niederlanden ankamen, meinen sie zunächst, sicher zu sein, erleben dann aber doch wieder Hass und Ablehnung in den Flüchtlingslagern.
Der französisch-marokkanische Künstler Mehdi-Georges Lahlou andererseits reist zurück ins islamische Mittelalter in seiner Tanzperformance.
Auch in seiner bildenden Kunst widmet er sich meist seinem islamischen Background und oft auch der Queerness. Er verwendet Bilder aus der islamischen Kultur für Genderthemen. Diesmal hat er sich ein Buch des Philosophen Ibn Hazm vorgenommen, der von 994 bis 1064 dort lebte, wo heute Spanien ist, was aber damals islamisch war. Der Text „Der Ring der Taube“ klingt wie ein platonischer Liebestext, der, wenn man die Codes kennt, in hohem Maße homoerotisch ist. Queerness ist natürlich überhaupt nichts Neues.
Sie haben ja selbst Tanz studiert. Was denken Sie: Wie gehen Performance und Diskurs zusammen?
Das ist die DNA des HAU: die transdisziplinäre Perspektive. Wir versuchen, Dinge zusammenzuführen, die sich ergänzen. Den Eröffnungsvortrag hält die Philosophin Sara Ahmed. Wir haben im Festivalprogramm auch viele Performances und Videoinstallationen. All das steht auch mal im Kontrast zueinander, fügt sich am Ende aber doch zusammen.
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