piwik no script img

Neue Romantik

In den Relegationsspielen gegen den VfB Stuttgart kann der AußenseiterUnion Berlin von seiner Unbeschwertheit und der Hingabe der Fans profitieren

Irgendwo zwischen Kommerz und altherkömmlichen Lösungen: Union-Ticketverkauf in Baucontainern mit LED-Anzeige Foto: imago

Aus Berlin Gunnar Leue

Auf dem 1-Prozent-Guckerkanälchen RTL Nitro gibt es die Fußballsendung „100 % Bundesliga“. Das hypertolle Spieltagswochenende lässt man dort auf bierlaunige Weise Revue passieren und auch das plebiszitäre Element wird gepflegt. Als das Fernsehvolk nach dem wahrscheinlichen Sieger aus den Relegationsspielen zur Bundesliga zwischen Stuttgart und Union Berlin heute (20.30 Uhr, Eurosport; Rückspiel am Montag) gefragt wurde, folgte ein klares Ergebnis: 67 Prozent pro Berlin! Das kann nur Fußballexperten sowie Menschen außerhalb von Köpenick verwundern. Allen anderen war klar: Dit is Union.

Die Fans der Eisernen hatten wieder einmal vollen Einsatz gezeigt, so wie sie es auch verlässlich tun, um „Tor des Monats“-Kandidaten ihres Vereins zum Sieger in der „Sportschau“-Umfrage zu machen. Die Hingabe und Mobilmachung der Fans für Union ist legendär und sie wird vielleicht auch der entscheidende Faktor sein, damit aus der kühnen Prognose eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wird.

Natürlich sind die Berliner krasse Außenseiter gegen Stuttgart, dafür sprechen einerseits die unterschiedliche individuelle Qualität in den jeweiligen Mannschaftskadern. Andererseits spricht der allgemeine wie der besondere Trend für die Schwaben. Als Erstligist sind sie nicht nur statistisch im Relegationsvorteil, sie haben sich auch jüngst sportlich berappelt, wogegen die zuletzt inkonstanten Unioner erst mal das haarscharfe Verpassen der Bundesliga-Direktqualifikation nach dem 2:2 in Bochum verkraften müssen.

Das größte Plus der Berliner liegt eigentlich darin, dass sie relativ unbeschwert in die Duelle gehen können, ganz nach der von den eigenen Fans am Vereinsgelände angebrachten Bannerparole: „Alles kann, nichts muss“.

In Köpenick versucht man, eine Art dritten Weg im Profifußballzu finden

Klar, die Erwartungshaltung ist da, weil die Chance auf Erstligafußball so nah ist wie nie in der Vereinsgeschichte und man in den Duellen mit Spitzenteams wie Dortmund im Pokal, Köln und, nun ja, HSV, die besten Saisonleistungen brachte. Zugleich herrscht so viel Vorsicht vor falschem Wunderglauben wie bei vielleicht keinen Vereinsfans sonst. Das liegt an der Union-Geschichte, in der die Köpenicker schon oft in entscheidenden Momenten als Verlierer dastanden – selbst wenn sie sportlich gewonnen hatten. Mal sind sie durch höhere politische Gewalt gescheitert (nach dem Prager Frühling 1968 konnte der Klub als DDR-Pokalsieger wegen des Ostblockboykotts nicht am Europapokal teilnehmen), mal durch eigenes Falschspiel im DFB-Lizenzverfahren (gefälschte Bankbürgschaft 1993).

Gleich aus mehreren existenzbedrohenden Malaisen hat sich der Klub herausgezogen. Nach einer kompromisslosen Übernahme durch potente Leute aus der eigenen Fanszene um den heutigen Präsidenten Dirk Zingler hat der Klub seit 2004 einen kontinuierlichen Aufschwung hingelegt, der nun gekrönt werden soll. Wenngleich die Erste Bundesliga von einigen Fans weniger als Höhepunkt der Vereinsgeschichte ersehnt denn als Wendepunkt befürchtet wird. Wohl nirgendwo sonst in einem deutschen Profifußballverein, abgesehen vom FC St. Pauli und vielleicht Freiburg, finden sich so viele Ablehner der Totalkommerzialisierung des Fußballs, was auch mit eigenen Positionspapieren an die DFL bekundet wird. Im Stadion an der Alten Försterei gibt es keine Torjubelmusik, kein Sponsorengedöns und überhaupt viele Überbleibsel der untergegangenen Fußballwelt – zum Beispiel über 80 Prozent Stehplätze, weshalb auch immer mehr Fußballromantikfans von überall her anreisen.

Dass man in Köpenick mit einer gewissen Prinzipienfestigkeit versucht, eine Art dritten Weg im Profifußball – für manche: das wahre Leben im Falschen – zu finden, hat sich herumgesprochen. Weil der Verein ein Verständnis von und für Fankultur praktiziert, das auch woanders gemocht, aber seltener gelebt wird, verwundert kaum, dass Unions Aufstieg außerhalb von Stuttgart vielerorts gern gesehen würde. Im Osten vielleicht noch mehr, da der Verein der einzige Ostrepräsentant im Oberhaus wäre. Die zufällig in Leipzig angesiedelte BSG Red Bull zählt diesbezüglich nicht mehr als die Hertha aus Charlottenburg, die Union eigentlich auch die Daumen drücken müsste. Schließlich gäbe es endlich ein Hauptstadtderby in der Bundesliga. Niemand könnte das mehr gebrauchen als Hertha BSC, das sein Stadion dann wenigstens ein drittes Mal in der Saison voll bekäme.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen