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Gefangen im Kanzleramt

Kanzlerin Kramp-Karrenbauer? Immer wieder kursieren Gerüchte, dass die CDU-Chefin möglichst schnell ins Kanzleramt einziehen will. Doch ein vorzeitiger Rückzug von Angela Merkel ist alles andere als einfach

Aus Berlin Daniel Godeck

Wann ist es soweit? Nach Verlusten bei der Europawahl? Oder doch erst im Herbst, nach den schwierigen Landtagswahlen im Osten? Spätestens seit Angela Merkel Ende 2018 den CDU-Parteivorsitz an Annegret Kramp-Karrenbauer übergeben hat, geistert eine Frage durch das Berliner Regierungsviertel: Wann endet die Ära Merkel auch im Kanzleramt? Die CDU-Chefin hat jüngst klargestellt, dass sie keinen „mutwilligen“ Wechsel im Kanzleramt plane, und davon ausgehe, dass Merkel regulär bis 2021 Regierungschefin bleibt. Tatsächlich wäre ein fliegender Übergang auch ein schwieriges Unterfangen. Ein Überblick.

1 Kann Merkel als Kanzlerin einfach zurücktreten?

Ja, theoretisch zumindest. Obwohl das Grundgesetz einen Rücktritt nicht vorsieht, ist er nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags „zulässig“. Als Vorbild dient der Rücktritt von Willy Brandt 1974 infolge der Guillaume-Affäre. So kann die Kanzlerin den Bundespräsidenten bitten, jemand anderen vorübergehend mit den Regierungsgeschäften zu betrauen – sofern sie selbst die Fortführung der Geschäfte für „unzumutbar“ hält. Damals übernahm Vizekanzler Walter Scheel für neun Tage das Kanzleramt. Ob das heute wahrscheinlich ist, darf aber stark bezweifelt werden. Denn: Was soll diese Unzumutbarkeit bei Merkel sein? Und, geschäftsführender Kanzler hin oder her, am Ende muss der Bundestag einen regulären Nachfolger wählen.

2 Was sagt das Grundgesetz genau?

Laut Verfassung liegt die Entscheidung allein beim Bundestag. Dort gibt es zwei Instrumente, mithilfe derer die Bundeskanzlerin ihr Amt verlieren kann. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum, bei dem eine Mehrheit der Abgeordneten einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählt. Oder aber, indem Merkel die Vertrauensfrage stellt – und verliert. Dann entscheidet der Bundespräsident: Entweder löst er binnen 21 Tagen den Bundestag auf oder er stellt einen neuen Kandidaten auf.

3 Klingt simpel: Merkel verliert die Vertrauensfrage und die schwarz-rote Regierungsmehrheit wählt Kramp-Karrenbauer zur Nachfolgerin. Oder?

In der Theorie, ja. Aber bei all dem muss man die jeweiligen Parteiinteressen sehen. Die Union fände das gut. Scheitern dürfte das Unterfangen aber am sozialdemokratischen Koalitionspartner. Die SPD hat bereits klar gemacht, dass sie Kramp-Karrenbauer nicht zur Kanzlerin wählt. Im Willy-Brandt-Haus sieht man nicht ein, der CDU-Chefin zu einem Amtsbonus zu verhelfen – und damit zu einem strategischen Vorteil im nächsten Bundestagswahlkampf.

4 Aber Jamaika hat doch aktuell eine Mehrheit. Können FDP und Grüne nicht Kramp-Karrenbauer wählen?

Auch hier muss man es strategisch sehen. Die FDP, das hat Parteichef Christian Lindner durchblicken lassen, würde da wohl mitspielen. Die Grünen dagegen kaum. In Umfragen steht die Partei zwischen 18 und 20 Prozent. Das ist mehr als doppelt so viel wie das Wahlergebnis 2017. Die Grünen würden diese Dividende bei Neuwahlen gerne einfahren bevor sie in Koalitionsverhandlungen einsteigen.

5 Ist das Ende der Kanzlerschaft Merkels also nur mit vorzeitiger Neuwahl zu machen?

Jedenfalls erscheint dies zum jetzigen Zeitpunkt am wahrscheinlichsten unter allen Szenarien, die von Merkels vorzeitigem Abschied ausgehen. SPD und Union wollen in diesem Herbst eine Halbzeitbilanz ziehen – so ist es im Koalitionsvertrag vereinbart. Denkbar wäre also, dass die Groko dann beendet wird. Allerdings ist aus der SPD aktuell zu hören, lieber weiter den Koalitionsvertrag abarbeiten zu wollen, um dann mit Projekten wie der Grundrente im Wahlkampf 2021 zu punkten.

6 Was spricht dafür, dass Merkel bis 2021 bleibt?

Aktuell vieles, zumal nach Kramp-Karrenbauers Ansage. Nach Startschwierigkeiten arbeitet die Groko seit Monaten einigermaßen geräuscharm. Wer sollte da Interesse an einem vorzeitigen Bruch haben? Auch ist Merkel nach wie vor die beliebteste Politikern – laut Forschungsgruppe Wahlen wünschen sich aktuell 68 Prozent der Wähler, dass sie bis 2021 Kanzlerin bleibt, unter den ­Unions-Anhängern sind es sogar 88 Prozent. Sie selbst hat gesagt, für die volle Legislatur zu Verfügung zu stehen. Zudem ist längst nicht ausgemacht, dass die anstehenden Wahlen in Europa, Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen für die CDU tatsächlich im Fiasko enden. Im Gegenteil: In Bremen könnte sie sogar erstmals vor der SPD liegen. Drei der vier Länder werden bislang ohnehin nicht von der CDU regiert – nicht einmal als Juniorpartner. Auch wenn gerade in Sachsen die AfD die Christdemokraten überholen könnte, dürfte ein Regieren ohne die CDU dort auch künftig nicht gehen.

7 Wie geht es nach der Europawahl für die Groko weiter?

Unabhängig vom Wahlergebnis steht eines fest: Es wird eine Kabinettsumbildung geben. Da Justizministerin Katarina Barley nach Brüssel wechselt, wird die SPD diesen Posten neu besetzen müssen. Als mögliche Nachfolgerinnen gelten die Bundestagsabgeordnete Eva Högl und die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig. Familienministerin Franziska Giffey bekommt, falls ihr der Doktortitel entzogen wird, ein Problem – Ausgang offen. Auch CDU-Minister gelten als schwach, Forschungsministerin Anja Karliczek macht zum Beispiel keine gute Figur. Andererseits: Bislang ist Merkel beim Umbau ihrer Kabinette äußerst sparsam vorgegangen.

8 Und Kramp-Karrenbauer?

Zu einem Wechsel ins Kabinett sehe sie „keinen Anlass“, sagt sie. Sollte sich daran nichts ändern, bleibt der Parteichefin nichts anderes, als abzuwarten. Sie muss ihren Einfluss in der Partei ausbauen, etwa durch Personalentscheidungen. Ihr Vertrauter Nico Lange wird wohl der neue Bundesgeschäftsführer im Adenauer-Haus. Stand heute will sich die Partei im Herbst 2020 ein neues Grundsatzprogramm geben – erst dann soll über die Kanzlerkandidatur entschieden werden.

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