: Der vergessene Eiserne Vorhang in Bulgarien
Hunderte Menschen kamen dort ums Leben. Doch Details sind kaum rekonstruierbar
Noch immer ist die Frage nach den getöteten Fluchtwilligen an der bulgarischen Grenze nicht hinreichend erforscht. Die Zahl der Opfer lässt sich aufgrund von nicht zugänglicher oder absichtlich vernichteter Akten nur lückenhaft feststellen. Im Jahr 1990 wurden etwa 42 Prozent der Akten der bulgarischen Staatssicherheit durch eine Anweisung des damaligen Innenministers, Atanas Semerdzhiev, gezielt zerstört.
Eine erste Zahl, wie viele Menschen bei ihrem Versuch, über die bulgarische Grenze zu fliehen, ermordet wurden, geben der damalige Verteidigungsminister Dimitar Ludjev und Innenminister Yordan Sokolov 1992 im Parlament bekannt. Demnach sind 339 Menschen getötet worden, jedoch fehlen Akten und Dokumente für sieben Jahre bis 1989.
Etwa 2.000 DDR-BürgerInnen versuchten bis 1989 über Bulgarien in den Westen zu flüchten, rund 1.500 von ihnen wurden gefasst. Nach aktuellem Forschungsstand sind mindestens 18 DDR-Bürger bei ihrem Fluchtversuch in Bulgarien gestorben, es gab auch mindestens zwei getötete BRD-Bürger. Doch das sind nur die aktenkundigen Fälle. In vielen Dokumenten ist vom „Vorfall an der Grenze“ oder „Fraktur des Schädels“ als Todesursache zu lesen. Ob diese durch einen Schuss der Grenzsoldaten erfolgt sind, wird nicht klar. Gewaltsames Töten wurde verschleiert. Somit lässt sich die genaue Zahl der Toten nicht klar beziffern.
Michael Weber, ein 19-jähriger Deutscher, gilt als das letzte Opfer an der bulgarischen Grenze, erschossen am Abend des 6. Juli 1989, wenige Monate vor dem Mauerfall.
Bulgarien grenzt an Rumänien, die Türkei, Griechenland und das frühere Jugoslawien sowie an das Meer. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre begann der Ausbau einer Sperranlage, die mit Stromsignal ausgestattet wurde. Die Grenze war komplett abgeriegelt. Die Meergrenze wurde ebenfalls streng bewacht: Strände wurden nachts hell ausgeleuchtet, um Fluchtwillige mit Booten abzuschrecken.
Erlass Nr. 359 vom 28. August 1952 regelt, dass Grenzsoldaten der Gebrauch der Schusswaffe gegen Personen gestattet wird, die die Staatsgrenze zu überqueren versuchen. Die Maßnahmen werden sukzessive in den darauffolgenden Jahren verschärft: Ein Befehl vom 11. Dezember 1974 listet Maßnahmen für Grenzer auf, die aufgrund von langsamer und ineffektiver Tätigkeit Flüchtige nicht aufhalten konnten. Diese wurden „stengstens zur Verantwortung gezogen“.
Rayna Breuer
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