Gewalt in Rebellenhochburg Idlib

In der syrischen Provinz Idlib sind mindesten 24 Menschen bei einem perfiden Doppelanschlag getötet worden. Die Tat könnte mit einer bevorstehenden russisch-türkischen Offensive in Zusammenhang stehen

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul

Ein Anschlag in der syrischen Rebellenhochburg Idlib hat mindestens 24 Menschen das Leben gekostet. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte waren 16 von ihnen Zivilisten, darunter vier Kinder. Der Anschlag am Montagnachmittag erfolgte nach einem perfiden Muster. Einem Beobachter zufolge explodierte zunächst mitten im Zentrum der gleichnamigen Provinzhauptstadt eine Autobombe. Als Rettungskräfte anrückten, wurde ein zweiter Sprengsatz gezündet.

In Idlib – in der Stadt als auch in der gleichnamigen Provinz im Nordwesten Syriens – ist Gewalt an der Tagesordnung. Von der demokratischen Opposition gegen das Regime von Baschar al-Assad ist nicht viel übrig. Nach heftigen Kämpfen in den vergangenen zwei Monaten hat die islamistische Miliz Hai’at Tahrir al-Scham (HTS), ein Ableger von al-Qaida, sowohl in der Stadt als auch im größten Teil der Provinz weitgehend die Kontrolle übernommen.

Dabei hätte HTS, die sich früher Nusra-Front nannte und neben dem mittlerweile fast vollständig zurückgedrängten „Islamischen Staat“ (IS) die radikalste islamistische Miliz in Syrien ist, längst entwaffnet sein sollen. Im Herbst 2018 hatte das Assad-Regime nach militärischen Erfolgen in Südsyrien begonnen, einen Großangriff auf das Rückzugsgebiet der Rebellen in Idlib vorzubereiten.

Zuvor waren viele Kämpfer und deren Familien aus vom Regime zurückeroberten Gebieten nach Idlib geflohen oder hatten freies Geleit nach Idlib erhalten. Vor allem die türkische Regierung befürchtet nun, dass bei einem Großangriff auf Idlib Hunderttausende Flüchtlinge über die Grenze in die Türkei drängen würden – ein Horror­szenario für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, hat doch die Türkei bereits Probleme, die schon im Land befindlichen 3,5 Millionen Syrer unterzubringen und zu versorgen.

Erdoğan verhandelte deshalb mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, ohne dessen Unterstützung die syrischen Regierungstruppen nicht angreifen können, einen Waffenstillstand für Idlib, der im vergangenen September unterzeichnet wurde. Darin verpflichtete sich die Türkei, eine Pufferzone entlang der Provinzgrenze von allen kämpfenden Gruppen freizuhalten und den Milizen darüber hinaus ihre schweren Waffen abzunehmen.

Eine Rebellenkoalition, die seit Längerem von der Türkei unterstützt wird, willigte ein, sich an die Konditionen des Waffenstillstands zu halten. HTS aber erklärte, sie würde ihre Waffen behalten und sich auch aus der Pufferzone nicht zurückziehen. Als die mit der Türkei verbündeten Rebellen daraufhin gewaltsam gegen HTS vorgingen erlitt die von Ankara unterstützte Koalition eine schwere Niederlage.

Seitdem drängt Putin gegenüber Erdoğan darauf, notfalls die türkische Armee einzusetzen, um HTS zumindest aus der Pufferzone zurückzudrängen und so weitere Angriffe von HTS auf syrische Truppen und einen nahe gelegenen russischen Militärflugplatz zu verhindern.

In der vergangenen Woche fand deshalb ein Treffen beider Präsidenten im russischen Sotschi statt, an dem auch der iranische Präsident Hassan Rohani teilnahm. Erdoğan erklärte anschließend, es sei über eine türkisch-russische Operation in Idlib gesprochen worden. Militärs würden nun beraten, wie eine solche Operation aussehen könne, ohne die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen.

Ob der Bombenanschlag von Montag mit den Vorbereitungen einer Militäroperation zu tun hat, ist unklar. Bis zu Redaktionsschluss am Dienstagnachmittag hatte sich niemand zu dem Attentat bekannt.

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