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„Man verließ sich auf die integratorische Wirkung des Hungers“

Zwischen den heutigen Erwartungshaltungen an Geflüchtete und jenen im frühen 18. Jahrhundert gibt es erstaunlich viele Parallelen. Welche, erklärt der Historiker Christoph Bongert vom Auswandererhaus in Bremerhaven anhand der Geschichte südwestdeutscher Migrant*innen, der sogenannten „Palatines“

Interview Simone Schnase

taz: Herr Bongert, welche Auflagen mussten die deutschen MigrantInnen, die sogenannten „Palatines“, die 1709 nach London gekommen sind, erfüllen, um bleiben zu dürfen?

Christoph Bongert: Deren Ziel war ja nicht London oder Großbritannien, sondern Amerika. Sie hatten die falsche Information, dass ihnen Land in den britischen Kolonien in Amerika bedingungslos zur Verfügung gestellt würde. Das war ein Gerücht, das sich Ende 1708, Anfang 1709 in bestimmten Regionen verbreitet hat und auf einem Fall basiert, den es so oder so ähnlich tatsächlich gab. Binnen weniger Wochen sind aufgrund dieses Gerüchts Tausende von Menschen aufgebrochen. Man geht davon aus, dass ungefähr 13.000 es geschafft haben, Rotterdam zu erreichen und von dort aus dann London. Das waren die sogenannten Palatines, also Pfälzer, aber in Wahrheit handelte es sich um Menschen aus dem gesamten Südwesten Deutschlands. An die knüpften die Briten vor allem eine Bedingung: Sie mussten Protestanten sein.

Wussten die Menschen das?

Es gab ein Gesetz, das kurz vor dieser „Flüchtlingswelle“ erlassen wurde. Man darf aber davon ausgehen, dass es den Südwestdeutschen nicht bekannt war. Dieses Gesetz versprach Hilfe und Unterstützung für Menschen, die als „protestant refugees“ galten. Das ergab sich aus der politischen Feindschaft der Briten zu den Franzosen. Man kann hier schon von einer Art Gewährung politischen Asyls reden, denn protestantische Flüchtlinge wurden immer als eine Art Gegner des französischen Königs betrachtet. Man hatte auch schon viele Hugenotten aufgenommen und jetzt waren es die „Pfälzer“, die man als „poor palatine protestant refugees“ bezeichnete.

Dem war aber nicht so?

Nein. Es war für die Briten überraschend und dann auch schwierig zu akzeptieren, dass unter den vermeintlichen protestantischen Flüchtlingen ein nicht kleiner Anteil Katholiken war. Für viele Geflüchtete bedeutete das, dass sie sich in der Begegnung mit den britischen Offiziellen in das herrschende Erwartungsmuster gefügt haben. In Bittschriften etwa bezeichneten sich Katholiken ebenfalls als Protestanten. Außerdem stellten sie sich, wie die Protestanten auch, gezielt als Flüchtlinge dar, das heißt als Opfer französischer Kriegseinwirkung. Das war in der Darstellung der Motivationsgründe also durchaus wichtig.

Was ist denn mit jenen geschehen, die sich dazu bekannt haben, Katholiken zu sein?

Ein großer Teil der Katholiken, ungefähr 2.000 Menschen, ist wieder zurückgeschickt worden. Sie gehörten nicht zu den ungefähr 3.000 mehr oder weniger „Glücklichen“, die es wunschgemäß in die britischen Kolonien in Nordamerika schafften. Und auch nicht zu den anderen, die in Großbritannien oder Irland angesiedelt wurden …

Also ist den Katholiken das widerfahren, was heute unseren Flüchtlingen widerfährt?

Ja, könnte man sagen. Letztlich ist ihnen sogar beides widerfahren: zuerst eine Art Evakuierung und dann die Abschiebung. Da sich die Allermeisten in Rotterdam die „freie“ Überfahrt nicht leisten konnten, haben die Briten, die sich zu der Zeit ja im Krieg mit Frankreich befanden, die mittellosen und notleidenden Menschen unterschiedslos auf dem Rückweg in ihren leeren Truppentransportern nach Großbritannien mitgenommen oder eben „evakuiert“. Das lief sehr kontrolliert über offizielle britische Stellen. Mit der Ankunft in London wurden dann detaillierte Listen angelegt.

Wie wurden die Flüchtlinge in London untergebracht?

Christoph Bongert, 38, hat in Tübingen und Berlin Philosophie und Geschichte studiert und arbeitet seit 2013 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auswandererhaus Bremerhaven.

Die Menschen kamen in bestimmte Quartiere, die bekannt waren – es gab also auch keine freie Wahl der Unterkunft. Es gab zudem Zeltlager, die ebenfalls von offiziellen Stellen in London eingerichtet wurden – vielleicht die frühesten Flüchtlingslager der Neuzeit. Man hatte also alles gut im Blick und unter Kontrolle.

Und so war es auch möglich, Menschen abzuschieben?

Genau, man wusste ja, wer sich wo aufhält, und man sorgte dafür, dass sich die Menschen nicht frei im Land bewegen konnten. Man stellte für jene, die zurückgeschickt wurden, Schiffe bereit und sorgte dafür, dass die auch betreten wurden. Dass wir davon überhaupt wissen, hängt übrigens damit zusammen, dass auch das erfasst worden ist, dass also auch über jene, die zurückgeschickt wurden, Listen geführt wurden. Insofern kann man da schon von Abschiebungen reden, wie sie auch heute durchgeführt werden.

Gibt es noch weitere Parallelen zur heutigen Situation?

Interessant ist, dass sich die Debatte über diese große Flüchtlingsgruppe der Palatines bis in bestimmte Wortlaute, Phrasen und Argumente der heutigen Debatte ähnelt – obwohl das über 300 Jahre her ist. Da haben sich beispielsweise prominente Intellektuelle zu Wort gemeldet, von denen der bekannteste sicherlich der Schriftsteller Daniel Defoe ist …

… der spätere Autor des Bestsellers „Robinson Crusoe“.

Er hat nicht humanitär argumentiert, sondern immer ökonomistisch, er hat also vom Nutzen dieser Menschen gesprochen, von einer Bereicherung im wörtlichen Sinne. Darauf ist die britische Regierung irgendwann auch aufgesprungen und hat verschiedene Programme entwickelt, die selten von den Wünschen der Palatines nach eigenem Land her gedacht waren.

Sondern?

Vom britischen Interesse: Es wurde beschlossen, sie beispielsweise in Bergwerken oder an anderen Arbeitsplätzen einzusetzen oder sie in bestimmte kleinere Gemeinden außerhalb Londons umzusiedeln. Und es gab eine große Gruppe, die nach Irland gebracht wurde. In der Kolonie New York wurden die Menschen für die Zwecke der britischen Marine in der Teer- und Pechherstellung eingesetzt, quasi als Abarbeitung der Überfahrts- und Versorgungskosten.

Wie stand es um die soziale Integration der Palatines?

Nachdem die Palatines sozusagen „entlassen“ worden waren, verstreuten sich die Überlebenden über verschiedene Teile New Yorks, Pennsylvanias und andere Kolonien. Die ganze Gruppe ist aber ins kollektive Gedächtnis der Amerikaner eingegangen als Poor Palatines. Deutsche Einwanderer im 18. Jahrhundert waren nicht „Germans“, sondern „Palatines“. Benjamin Franklin zum Beispiel hat Mitte des 18. Jahrhunderts in seiner bekannten Einlassung über deutsche Einwanderer in Pennsylvania immer bloß von Palatines beziehungsweise gleich von „palatine boors“, also pfälzischen Bauernlümmeln, gesprochen. Über sie sagte er, sie würden sich nicht an die dortigen Sitten und Bräuche halten und die englische Sprache nicht sprechen, sondern immer bloß unter sich bleiben. Als Horrorszenario malte er aus, dass Pennsylvania nach und nach zu einer deutschen Kolonie würde …

Also Ressentiments statt Integration …

Von staatlicher Seite gab es ohnehin keine Programme oder Angebote zur „Integration“, nur gesellschaftlich klare Anpassungs-Erwartungen an die Immigranten. Das war in den USA ja auch im 19. und 20. Jahrhundert nicht anders. Integration fand dort immer als Eingliederung in den Markt statt, oder zynisch ausgedrückt: Man verließ sich auf die integratorische Wirkung des Hungerns statt auf staatliche Sanktionen oder Anreize. Interessant an Franklins Äußerung ist aber auch noch, dass er hinzufügte, Deutsche könnten niemals die Hautfarbe von Engländern bekommen. Das bedeutet also, Deutsche wurden, wie unter anderem teilweise auch die Iren im 19. Jahrhundert, als nicht weiß betrachtet. Und das war in Amerika eine entscheidende Bedingung für soziale Integration wichtig: weiß zu sein und protestantisch. Das hat die ganze Immigrationsgeschichte in Amerika enorm geprägt.

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