: „Defizitäres Bild von Geflüchteten“
Deutsch lernen ist nicht alles, um Schüler*innen zu integrieren, sagt Bildungsforscherin Karakaşoǧlu
Yasemin
Karakaşoǧlu
ist Vorsitzende des Rats für Migration und Leiterin des Arbeitsbereichs Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Sie forscht zur Bildungsteilhabe von Geflüchteten in Schule und Hochschule.
taz: Frau Karakaşoğlu, der Unesco-Bildungsbericht hat vor Kurzem Deutschland ein gutes Zeugnis beim Deutschunterricht für geflüchtete Menschen ausgestellt. Schließen Sie sich diesem Urteil an?
Yasemin Karakaşoğlu: Der Unesco-Bildungsbericht beurteilt Deutschlands Bemühungen recht positiv, vor allem was die Vermittlung von Sprachkenntnissen betrifft. Das ist natürlich eine wichtige Voraussetzung. Allerdings liegt der Fokus dabei vor allem auf der deutschen Sprache. Kenntnisse anderer Sprachen, zum Beispiel Arabisch, werden nicht berücksichtigt.
Die Schüler*innen sollen mit intensivem Deutschunterricht ja auf die Regelklassen vorbereitet werden.
Vorklassen oder Willkommensklassen, wie sie teilweise auch heißen, entwickeln sich leicht zu parallelen Strukturen, wenn die Schüler*innen dort zwei Jahre bleiben. Das erwähnt der Bildungsbericht auch. Diese Extraklassen nähren außerdem bei Lehrer*innen die Vorstellung, dass Schüler*innen erst dann in die Regelklassen aufgenommen werden sollten, wenn sie in sprachlicher Hinsicht den Regelanforderungen weitgehend entsprechen.
Wie wäre es denn möglich, diese Schüler*innen direkt in Regelklassen zu integrieren?
Dafür müsste sich der Unterricht an anderen Gegebenheiten ausrichten und mehr Lehrkräfte zum Beispiel für Teamteaching zur Verfügung stehen. Wir haben jetzt die Situation, dass der Unterricht sukzessive auf den politischen, historischen oder auch mathematischen Kenntnissen aufbaut, die Schüler*innen erwerben, die von Anfang im deutschen Schulsystem unterrichtet werden und auch von zu Hause aus einen bestimmten Bildungshintergrund mitbringen. Die spezifischen Erfahrungen von Kindern mit Fluchthintergrund oder mit Migrationsgeschichte kommen da kaum vor, weil Lehrer*innen damit nicht vertraut sind und daher damit nicht umgehen können.
Das ließe sich ja über entsprechende Fortbildungen lösen.
Fortbildungen wären eine Lösung, und diese Fragen sollten schon in der universitären Lehrer*innenausbildung prominent vorkommen, wie in Bremen und an einigen anderen Unis. Aber für Fortbildungen, ebenso wie für das Teamteaching gibt es derzeit kaum zeitliche Spielräume an den Schulen, weil alle Lehrkräfte dringend an den Schulen gebraucht werden. Das System knebelt sich selbst.
Was müssten Lehrer*innen Ihrer Ansicht nach denn leisten, um anders auf die Bedürfnisse von Geflüchteten einzugehen?
Es herrscht vielfach ein einseitiges, defizitäres Bild von geflüchteten Menschen vor. In Lehrbüchern werden sie meist als hilfsbedürftig und nahezu ausschließlich als problembehaftet dargestellt. Dabei haben wir seit langer Zeit Studien, die zeigen, dass dieser Blick auf Flucht und Migration nicht zeitgemäß ist. Wir brauchen Lehrer*innen, die solche Vorgaben kritisch hinterfragen, die erkennen, wie diskriminierend manche Darstellungen sind, ihre eigenen Vorannahmen und Haltungen hinterfragen und die den Blick dafür schärfen, was diese Kinder und Jugendlichen an Ressourcen mitbringen. Und wir brauchen Lehrer*innen, die sprachsensibel unterrichten, die also darin geschult sind, einen Text so zu erschließen, dass ihn auch jemand versteht, der nicht in dem Kontext der deutschen Mittelschicht aufgewachsen ist. Dazu gehört, bestimmte Begriffe zu erklären oder Schüler*innen anzubieten, sich Themen in ihrer Herkunftssprache selbst zu erschließen, weil sie dem Unterricht dann besser folgen können. Das scheitert aber oft schon am Handyverbot an den Schulen oder eingeschränkten Zugang zum Internet.
Was könnten die Kultusminister*innen denn ändern, um die Integration geflüchteter Schüler*innen zu verbessern?
Wir denken immer noch zu viel nacheinander. Der Schwerpunkt liegt auf „erst mal Deutsch lernen“, und wir konzentrieren alle Zeit und Kraft der Schüler*innen darauf, anstatt zu gucken, welche anderen Fähigkeiten die Kinder und Jugendlichen mitbringen, an denen Schule und Lernen andocken könnte, wie es etwa in Schweden gemacht wird. Wer beispielsweise schon Französischkenntnisse hat, kann auch in der Schule direkt am Französischunterricht teilnehmen. So, wie wir es derzeit angehen, besteht die Gefahr, dass andere Fähigkeiten der Schüler*innen über das Deutschlernen in Vergessenheit geraten.
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