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Was Kunst und ihre Lesarten formatiert

Mit chorischen Lesungen seiner Tagebücher erinnert „Einar Schleef zum 75.“ im HAU an den früh verstorbenen Theatermann

Einar Schleef, Selbstbildnis. Wohlgemerkt, noch ist das kein Selfie Foto: HAU

Von Esther Slevogt

Dieser Auftritt ist erst mal untypisch fürs HAU und auch für Einar Schleef: Einem schwarzen Shuttle-Bus entsteigen dreizehn junge Leute in dunkelroten Ganzkörperanzügen aus fließendem Samt. Wie sie über den roten Teppich ins Theater schreiten, sieht eher nach Film- als nach Einar-Schleef-Festival aus. Dem großen Schriftsteller und Theatermann, der 2002 überraschend im Alter von 57 Jahren verstarb und in dieser Woche 75 Jahre alt geworden wäre, hat das HAU aktuell ein kleines Festival gewidmet.

Trotzdem markiert dieser Glamour-Auftritt ganz gut die Differenz, die zwischen dem Zeitalter klafft, das Schleef und seine Kunst hervorbrachte, und den Zeiten, in denen wir nun angekommen sind: Schleef, dessen Theaterarbeit ebenso wie seine Literatur Zeugnis ablegt von den totalitären Systemen und Familienverhältnissen des 20. Jahrhunderts, in denen Schleef gelebt und gearbeitet hat. Dagegen steht unser aktuelles Selfie-Age, das mit Gemeinschaften, Ideologien, aber auch mit Geschichte nur noch wenig anfangen kann; dafür aber geprägt ist vom totalitären Druck des Marktes, der auch jeden Einzelnen permanent dazu zwingt, sich selbst zu vermarkten. Im Festival-Rahmenprogramm gab es unter anderem eine Filmdokumentation von 1993 zu Schleefs Theaterarbeit, Lesungen und künstlerische Kommentare, darunter ein Vortrag des Schauspielers Fabian Hinrichs, der sich mit dem Chorprinzip auseinandersetzte, einer wesentlichen Signatur von Schleefs Inszenierungen.

Um Chorist*innen handelt es sich auch bei den Leuten, die dem schwarzen Luxus-­Shuttle entstiegen, bevor sie auf der Bühne dann im Marschrhythmus eine furiose Trampel-Ouvertüre vollführten: als Hommage an Schleef, der sein Publikum oft mit martialisch-militaristischen Trampeleinlagen verstörte: wenn bis zu fünfzig Chorist*innen (etwa in schweren Springerstiefeln und Militärmänteln) viele lange Minuten auf der Bühne marschierten – Ausdruck eines Zeitalters, das die Massen als Ornament der Macht verwendet und verschwendet hatte. Jetzt aber, im Jahr 2019, wirkt das Getrampel der freundlichen jungen Menschen nur noch wie das sanfte Echo vergangener Kunstexzesse.

„Tarzan rettet Berlin“ ist der Abend überschrieben. Unter der Leitung eines weiblichen Regiekollektivs um die Schauspielerin und langjährige Schleef-Chorleiterin Christine Groß brachte der Chor Texte aus Schleefs Tagebüchern zu Gehör, die Schlaglichter auf eine Kindheit in einer autoritär strukturierten Gesellschaft im Schatten eines gewalttätigen Vaters werfen, Selbstreflexionen des DDR-Künstlers, der 1976 in den Westen ging und sich an den deutschen Geschichtstraumata ebenso abgearbeitet hat wie an den großen deutschen Stoffen, von Goethes „Faust“ bis Brechts „Puntila“. Der Titel bezieht sich auf Schleefs erstes Theaterstück aus den 1970er Jahren, das der Chor im Laufe des Abends gleich zwei Mal skandiert, spricht, brüllt, flüstert. Neben Tarzan und Jane spielt darin auch der einstige DDR-Staats- und SED-Chef Erich Honecker eine Rolle.

Das Getrampelals sanftes Echo vergangener Kunstexzesse

Der Kunstgriff dieser kleinen Schleef-Hommage besteht darin, dass der sich Chor aus Menschen zusammensetzt, die sehr sichtbar das Ideal einer diversen Gesellschaft verkörpern und sich selbst nicht in die binäre Ordnung einsortieren, die die Menschheit fein säuberlich in Männer und Frauen aufteilen will – so, wie zu Schleefs Zeiten die Welt ins binäre Ost-West-System einsortiert war, das kein Dazwischen geduldet hat. Kenntlich wird der non­binäre Chorcharakter nicht nur durch zunehmend individualistisch cross-gegenderte Kleidung, sondern auch in eigenen Texten, die den Schleef-Texten gegenübergestellt werden und nonbinäre Identität verhandeln.

Es ist also längst eine andere Gesellschaft, die sich nun noch mal Schleef und seine Kunst vorlegt. Eine Gesellschaft, für die Schleefs Hardcore-Germany-Themen nicht mehr in dem Maße existenziell sind wie noch ein Vierteljahrhundert zuvor. So tut dieser luftige Abend nicht viel mehr, als auf subtile Weise eine Ahnung davon zu vermitteln, wie stark Gesellschaftsmodelle und Formen des Zusammenlebens Kunst und ihre Lesarten formatieren.

Auch sind – und das hat im HAU Methode – Theaterabende wie dieser auch gar nicht die Crux von Themenfestivals. Denn diese Festivals sind stets klug konzipierte Kampagnen, die etwa Künstler, denen das Vergessen droht, auf mehreren Ebenen wieder in die Kanäle der Gegenwart spielen. Es gibt eine Zeitung, die auch mancher Tageszeitung beiliegt, in der man Schleef als Fotograf, aber auch als Autor wiederbegegnen kann. Es gibt tolle Glitzerpostkarten, guerilla-marketinghaft ist die halbe Stadt mit Schleef-Postern gepflastert. Da wird auf jeden Fall eine Portion Schleef zum Weiterdenken für die Gegenwart hängen bleiben.

Letztmals heute, 19 Uhr

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