Verdammte Lust auf Glück
Hat Rosa Luxemburg, vor hundert Jahren von Rechtsextremen ermordet, uns noch etwas zu sagen? Mit Hannah Arendt geantwortet: ziemlich viel
Von Stefan Reinecke
Ich habe verdammte Lust glücklich zu sein, und bin bereit, Tag um Tag mit dem Starrsinn eines Tauben um mein Portiönchen Glück zu feilschen.“ Das schrieb Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, den Mann ihres Lebens. Sie war eine begnadete Briefautorin. Ihre Briefe aus dem Gefängnis sind anrührende Beispiele dieses Genres, voll zarter Beobachtungen und präziser Miniaturen zur Natur, zu Vögeln, dem Himmel, dem Leben, das man „tapfer, unverzagt und lächelnd“ nehmen muss, wie es ist.
Rosa Luxemburg war eine zornige Liebende, die sich selbst ein Temperament bescheinigte, das „eine ganze Prärie in Brand setzen“ konnte. Sie war eine glänzende Polemikerin, eine originelle sozialistische Theoretikerin – und eine Empfindsame. Dass sie, die ehrgeizige Intellektuelle, die sechs Sprachen beherrschte, ihr Leben lieber „mit Gänse hüten“ denn als Revolutionärin verbracht hätte, war nicht nur kokett.
Am 15. Januar 1919, dem Tag, als Rechtsextreme sie mit Billigung des rechten Sozialdemokraten Gustav Noske ermordeten, war sie tragisch gescheitert. Sie war 47 Jahre alt, ihr schwarzes Haar war in den Gefängnissen des Kaiserreichs weiß geworden. Sie war krank und erschöpft – und stürzte sich in die so lange ersehnte Revolution. Sie polemisierte in der Roten Fahne gegen „den parlamentarischen Kretinismus“ und schürte mit Wortgewittern die Illusion, dass ein Aufstand gegen Eberts bürgerliche Republik möglich war. Es war ein Kampf auf verlorenem Posten.
Luxemburg sammelte in ihren letzten zwei Monaten Niederlagen. Die KPD, die sie selbst mit begründete, sah sie skeptisch: Sie fürchtete, dass daraus eine vom vitalen Strom der proletarischen Masse abgetrennte Sekte würde. Das endgültige Fiasko war der „Spartakusaufstand“, ein wirrer Putschversuch, den Luxemburg verhindern wollte, aber nicht konnte (nachzulesen in dem vergessenen Bericht des Untersuchungsausschusses des preußischen Landtags von 1920, den Jörn Schütrumpf dankenswerterweise ausgegraben hat). „Die Revolution wird sich morgen schon ,rasselnd wieder in die Höh’ richten' und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: ich war, ich bin, ich werde sein!“ So lauteten ihre letzten Zeilen. Ein Irrtum.
Luxemburgs Traum von der Revolution endete in Berlin als blutige Donquichotterie. Der konfuse Putsch war ein Vorwand für den entfesselten Terror der Freikorps. In Moskau erstickte der Bolschewismus an der selbst entfachten Gewalt und der Unterdrückung von Freiheit und Demokratie, exakt so, wie Luxemburg es in ihrer Kritik an Lenin scharfsinnig vorausgesehen hatte. Die doktrinäre Verhärtung der Bolschewiki 1917 hat sie nicht als Liberale verdammt. Genau deshalb ist ihre Kritik, die in dem Satz, dass „die Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist“, gipfelte, spektakulär. Sie maß die Kommunisten an ihren eigenen Versprechungen – und fürchtete „eine deformierte Revolution weit mehr als erfolglose“, so ihr Biograf Peter Nettl.
Arendt hat das schon richtig missverstanden: Luxemburg wies über Marx hinaus
Für ihr Nachleben war ihr Tod, man muss es so sagen, Glück. Sie wurde zur Märtyrerin der Linken. Die Wahl, in der autoritären KP zu bleiben und sich selbst damit als Intellektuelle auszulöschen, oder zur einflusslosen Renegatin zu werden, blieb ihr erspart. Dass Luxemburg zur Ikone wurde, hat noch andere Gründe – und die sind zum Teil Missverständnisse. Die Frauenbewegung erkor die Zerbrechliche, die sich in der Männerwelt behauptete, zur Heldin. Zu Luxemburgs Aura gehört auch, dass sie Migrantin war – polnische Jüdin im deutschen Kaiserreich. Doch Luxemburg als Frau und Jüdin in Beschlag zu nehmen ist schwierig. Für Feminismus hatte sie nur Spott übrig. Das Judentum war ihr egal. Es ist allenfalls lesbar als Triebfeder für ihren wetterfesten Internationalismus.
Ist Luxemburg 2019 nur eine Erinnerung an versäumte Chancen, an das ewig unerfüllte Traumbild eines antiautoritären Sozialismus, an ein lang ausgebranntes Feuer? Also nur Asche?
Ihr Werk, schrieb Hannah Arendt 1968, müsste Pflichtprogamm „der westlichen Politikwissenschaften“ sein. Arendt, die Philosophin der Freiheit, verehrte Rosa Luxemburg – und das ist erstaunlich. Für Arendt war Geschichte prinzipiell offen. Die hegelianische Idee, dass die Geschichte Gesetzen folgt, lehnte sie ab, erst recht den Marxismus. Soziale Gleichheit spielte für sie keine große Rolle. Woher die Neigung zu der Linkssozialistin Luxemburg? Noch ein Missverständnis? Diese Frage ist keine Philologie. Sie führt geradewegs zu der Frage, ob Luxemburg jenseits des als Weltenträtselungscode erloschenen Marxismus existiert.
Arendts Nähe zu Luxemburg hatte biografische Unterströme. Beide waren ja jüdische Intellektuelle, die von antisemitischen deutschen Herrenmenschen ermordet oder verjagt worden waren. Heinrich Blücher, Arendts Mann, war 1919 Rätekommunist gewesen. Ihre Mutter, Martha Cohn, bewunderte Luxemburg. War Arendts Wertschätzung für die linke Intellektuelle nur eine Sentimentalität, die sich die sonst bis zum Eisigen Unbestechliche leistete?
Für Arendt hatte Luxemburg das marxistische Gehäuse unbemerkt verlassen. Denn für Luxemburg war die Revolution „kein Glaubensartikel“ wie für Lenin, auch keine Notwendigkeit wie für Kautsky, sondern ein offener Prozess, den nur das spontane, öffentliche Handeln der proletarischen Masse herstellen könne. Wenn wir proletarische Masse durch Bürger ersetzen, ist klar, was gemeint ist. Die Vielen müssen die Politik machen, das ist die Idee der Republik. Arendt sah in Luxemburgs Spontaneismus einen Spiegel ihrer Überzeugung, dass Glück nicht privat ist, sondern im öffentlichem Reden und Handeln entsteht. Die ungeplante Erhebung und das Lob des kollektiven Handelns bei Luxemburg ähnelten in ihrem Blick den townhall meetings, die Arendt an der amerikanischen Revolution bewunderte. Es war kein Zufall, dass beide in der Räterepublik die geeignetere Form der Demokratie sahen.
Mag sein, dass der Versuch, Luxemburg aus dem Marxismus herauszulösen, etwas brachial war. Aber Arendt hat Luxemburg schon richtig missverstanden: Ihre basisdemokratischen Ideen wiesen über den Marxismus hinaus. Insofern war es ein hübscher Gag, dass Barbara Sukowa in Spielfilmen beide darstellte, beide zwischen flammendem Engagement und kühler Unnahbarkeit.
Die repräsentative Demokratie steckt in einer Krise. Die Kluft zwischen dem Versprechen auf Mitsprache und dem Gefühl, bestenfalls Zuschauer undurchschaubarer Umstände zu sein, wächst. Bei Luxemburg, der Kritikerin der Bürokratie, der Antinationalistin, der republikanischen Denkerin, kann man dazu Anstöße finden. Mehr kann man nicht verlangen.
Luxemburg, schrieb ihr Biograf Peter Nettl, war „eine ewige Fremde“. Vielleicht ist sie uns deshalb nah.
Im Berlin-Teil lesen Sie einen Schwerpunkt zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg.