: Die verlorenen Paradiese der kleinen Leute
Die schönen Warenwelten der Kindheit in den 70er-Jahren waren Massenindustrie, aber sie übten einen Zauber aus. Der ist verflogen in dem Maße, wie Spielzeug zu Ramsch herunterkommt. Eine Weihnachtsgeschichte von Roger Behrens
Oldenfelde, zwischen Berne und Rahlstedt, am nordwestlichen Stadtrand von Hamburg: Meine Kindheit hier – das sind die ersten Lebensjahre in der Bekassinenau, dann Umzug in die Greifenberger Straße, gegenüber die Grundschule Kamminer Straße. Vom Balkon aus konnten wir den Schulhof sehen, vom Schulhof aus konnte ich unseren Balkon sehen. „Unser Balkon“ – das ist natürlich, genaugenommen, falsch: Der Balkon gehörte uns nicht, so wenig wie die Wohnung. Meine Eltern waren einer Baugenossenschaft beigetreten, die Wohnung war zu relativ günstigen Konditionen gemietet, Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, ein Flur, dessen lange Wand mit Kiefern-Paneelen verkleidet wurde.
Schulwechsel aufs Gymnasium, zeitgleich Umzug in die Eichberg-Siedlung, vermittelt und vermietet wieder von derselben Baugenossenschaft, Komfortwohnung, Parkplatz vor dem Haus, dazu ein Autowaschplatz, der Zweitwagen wurde angeschafft. Gegenüber wurde gebaut, Einfamilienhäuser, dahinter Natur, die bald planiert wurde, um die Trasse für die Schnellstraße anzulegen. Lebensmittel kaufte man jetzt in den ersten Discount-Supermärkten, Urlaub in Dänemark, auf den Balearen oder Kanaren. Die ersten Reisen mit Spantax, am Flughafen gab es für die Luftfahrt noch ein Lustiges Taschenbuch.
Das passierte zwischen 1967 und 1983, dann war die Kindheit vorbei. Was sich allgemein abzeichnete, war in der Peripherie als Idylle und Komfortzone kaum zu spüren: Das private Glück, ausgestattet mit den Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft plus Bausparvertrag und Lebensversicherung trotzte dem „Ende des goldenen Zeitalters“, wie es der Historiker Eric Hobsbawm für die Zeit nach 1973 diagnostizierte; die Krisen schienen hier – abgesehen von ein paar autofreien Sonntagen – noch nicht angekommen zu sein, noch konnten Entwürfe individueller Selbstverwirklichung auf Familienniveau ohne Weiteres ausprobiert werden. Der soziale Wohnungsbau stellte die Räume bereit, in denen ein „eigenes Leben“ verwirklicht werden konnte, also im emphatischen Sinne ein Lifestyle, der Individualität versprach – vermittelt durch eine Massenkultur, die sich sukzessive verfeinerte. Und dies betraf auch die Formierung von Kindheiten, von Kind-Sein überhaupt.
Nachdem schon in den 1950ern Jugendliche über das Kulturwarenangebot des „kooperativen Kapitalismus“ (Herbert Marcuse) eingebunden wurden, wurden spätestens in den 1970ern auch Kinder als Konsumenten mit einem wachsenden Markt verkoppelt, der sich in verschiedensten Segmenten zusehends auf besondere Altersgruppen – etwa Vier- bis Achtjährige, Acht- bis Zehnjährige, später auch Drei- und Vierjährige, dann sogar Null- bis Dreijährige – spezialisierte.
Im Schattenvon Vietnam
Zumindest in den Selbstrepräsentationen konnte über Reklame, Kataloge, Filme, Schaufenster und dergleichen eine Wohlstandsgesellschaft illustriert werden, die sich über das gesamte Leben der Einzelnen zu erstrecken vermochte; und im Schatten von Vietnam, Kalter Krieg, Kulturrevolution und RAF war freilich von Bedeutung, dass die Kinderwelt unbedingt als eine heile Welt inszeniert wurde.
Die „ungeheure Warensammlung“, die Marx noch 1867 als Bild für den Reichtum des Kapitalismus nahm, hatte nach einem Jahrhundert mit der „Gesellschaft des Spektakels“, in der „alles, was unmittelbar erlebt wurde, in eine Vorstellung entwichen“ war (Guy Debord), zusehends alles Ungeheure abgelegt: Das bunte, poppige, glückliche Plastikzeitalter begann in den Kinderzimmern; die „affluent society“, also Überflussgesellschaft, hatte alsbald ihre signifikantesten Bilder in den Riesenmengen an Spielzeugen gefunden.
So wenig wie Massenkultur an sich eine von der Masse für die Masse hergestellte Kultur ist, so wenig ist die Kindermassenkultur, die sich jetzt als alle Lebensbereiche umfassendes Verbundsystem etablierte, eine von Kindern geschaffene Kultur: Sämtliche Spielzeuge, Bücher, Filme, Fernsehserien, sonstige Gadgets und Gimmicks wurden und werden von Erwachsenen produziert, und das heißt schließlich auch: konzeptioniert, designt, „kindgerecht“ gestaltet und überdies mit allerhand pädagogischen und psychologischen Phrasen etikettiert: Spielzeuge „fördern“, „regen die Fantasie an“, „helfen“, sind oder machen „kreativ“; Kinder „lernen“, zum Beispiel „Geschicklichkeit“, „soziales Verhalten“ über „Rollenspiele“ etc. Allgemein gerahmt sind diese insgesamt dem Behaviorismus entstammenden Verbrämungen von der Vorstellung, dass Kind-Sein eine Vorstufe des Erwachsen-Seins ist, die unbedingt pädagogisch und psychologisch betreut und deshalb mit pädagogisch wertvollen und psychologisch getesteten Spielzeugen und Medienangeboten begleitet sein muss.
Gleichwohl war in den 1970ern bis zu den frühen 1980ern Jahren aber auch noch ein mit Sorge behaftetes Bewusstsein virulent, dass solche über Spielzeug vermittelten Erziehungsanstrengungen auch schiefgehen können; kritisiert wurde die auf Kinder und Kindheit zugeschnittene Kulturindustrie dabei bemerkenswerter Weise von progressiver wie konservativer Seite nach ähnlichen Deutungsmustern eines Diskurses, wonach Erwachsene irgendwie wüssten, was für Kinder und Kindheit gut und richtig ist, und vor allem was nicht.
Die Einführung der Sesamstraße war nicht unumstritten, der Bayerische Rundfunk hat das US-amerikanische Format nicht ins Programm aufgenommen. Plastikspielzeug von Herstellern wie Mattel – nämlich das Barbie-Puppen-Sortiment und damals noch, als Pendent für Jungs, Big Jim und seine abenteuerlustigen Freunde – galten eher als pädagogisch wertlos, schon früh monierten Erwachsene die mit den Figuren reproduzierten Stereotypen. Die von Mattel vermarktete Plastikwelt galt als realitätsfremd, für Kinder ungeeignet und somit wenig lehrreich; hingegen waren sich Eltern und Experten relativ einig, dass die Bau- und Konstruktionsspielzeuge von Herstellern wie Lego, Bilofix, Märklin, Plasticant, Eduplay und vor allem dann Fischertechnik dem Kind in jeder Hinsicht spielerisch – und das heißt eben immer lehrreich-lernend – Wirklichkeit authentisch vermitteln.
Als kindgerecht stellte man sich diese Wirklichkeit allerdings gewaltfrei vor. „Kein Krieg im Kinderzimmer“ war über lange Zeit eine entschiedene pädagogische Parole, die sich allerdings weitgehend auf Militärspielzeuge beschränkte: Dass im Maßstab 1:87 die Panzer von der Firma Rocco durchs Kinderzimmer rollten, wurde nicht gerne gesehen; sich indes mit Gummi-Tomahawk und Platzpatronen-Revolver, gegenseitig im Cowboy-und-Indianer-Spiel umzubringen oder als Ritter mit Holz- und Plastikschwertern, aufeinander loszugehen, galt irgendwie als realitätsgerechter und wurde – argumentativ umrahmt von Versatzstücken populärer Verhaltenspsychologie und Entwicklungspädagogik – toleriert.
Den Umschwung in dieser Debatte gab es erst um 1980, womöglich datierbar auf das Jahr 1977, als der erste Star Wars-Film in die Kinos kam, der auch deshalb die Wiederbelebung des Blockbuster-Kinos bedeutete, weil er von einem großen Merchandise-Paket begleitet war, unter anderem so genannten Action-Spielfiguren, natürlich von Anfang an vollbewaffnet; weitergeführt wurde das in den 1980ern durch Masters of the Universe und He-Man, während gleichzeitig sich auf den Bildschirmen die noch Videospiele genannten Computergames mehr und mehr aufs Abschießen und Wegbomben kaprizierten. (Für die über die 68er sozialisierten Erwachsenen ließen sich die Erinnerungsreste an den Vietnam-Krieg nun über Film und Fernsehen kompensieren: „Apocalypse Now“ (1979), „Rambo“ (ab 1982), „Magnum“ (Serie, ab 1980); eine humoristische Verarbeitung boten der Film und die Serie »M*A*S*H« schon in den 1970ern.)
Das Verschwindender Kindheit
Im Zuge der Medialisierung kindlicher Lebensräume gab es noch einmal eine große Debatte, die Neil Postman 1982 in seinem Buch „Das Verschwinden der Kindheit“ zuspitzte – eine Debatte, die jedoch weitgehend verstummte, und zwar spätestens mit der fortschreitenden Digitalisierung und Computerisierung, die in den 1990ern zusehends auch die Kindheit bestimmte und Spielwelten der technologischen Rationalität unterwarf, also eigentlich gute Gründe bot, Postmans Kritik sachlich, wenn nicht emanzipatorisch fortzusetzen.
Die System-Spielzeuge, nämlich vor allem Lego und Playmobil, die wie Märklin und Fischertechnik auch mit dem Etikett „System“ vermarktet wurden (System bedeutet hierbei das abgeschlossene, doch untereinander kombinierbare, Produktprogramm), wurden den Kinderkonsumenten weitgehend in umfangreichen, Hersteller-eigenen Katalogen angeboten: Ab Herbst stapelten sich diese zuhause, um so langsam die Wunschzettel für Weihnachten fertig zu machen.
Und mehr noch: Aus den Katalogen von Märklin, Fleischmann, Faller, Siku, Matchbox, Dinky Toys, Kosmos oder Ravensburger setzte sich eine ganze Welt zusammen, eine Totalität, die sich im kindlichen Zugriff als eigenständige Mythologie entfaltete. Mitunter hatten die Kataloge, die wie bei den großen Versandhäusern im Buchformat herausgegeben wurden, Titel wie „Die ganze Welt der Phantasie“ oder „Das Buch der Wünsche“; dass es alles, was in den Katalogen abgebildet war, auch wirklich gab, ließ sich in der Innenstadt überprüfen, in den Spielwarenabteilungen von Horten, Kaufhof, Karstadt oder Alsterhaus, bei Brinckmann in der Spitalerstraße und vor allem bei Spielzeug Rasch am Ida -Ehre-Platz / Ecke Speersort.
Brinckmann, Spielzeug Rasch und einige der ehemals großen Kaufhäuser sind längst verschwunden (ebenso wie die Fachgeschäfte etwa im Modellbaubereich, so zuletzt das „Traditionsgeschäft“ Modellbau Rettkowsky auf St. Pauli oder Modellbahn Altona in der Ehrenbergstraße); selbst Toys’R’Us – einst Marktführer – ist gerade pleitegegangen („Ein trauriger Tag für alle Kinder und Familien“, kommentierte das Management die Schließung mehrerer Filialen).
Abgesehen von einigen kleineren Spielzeugläden, die in Hamburg bis heute überlebt haben, bietet der verbliebene Fachhandel kaum noch ausschließlich Spielzeuge an – und richtet sich auch nicht mehr wirklich an Kinder, sondern eher an – zahlungskräftige – Eltern: Wie in den letzten zusammengeschrumpften Spielwarenabteilungen bei Kaufhof, Karstadt und – in einem sehr spärlichen Reservat übrig geblieben – Alsterhaus wird längst auch, bei zum Beispiel Jako-O, Spielzeug zusammen mit Kindermode und Babyartikeln angeboten.
In den Geschäften der Großketten wie MyToys oder BR werden die Spielzeuge wie Ramschware angeboten; das vermutlich von irgendwelchen Marketing-Strategien ausgeklügelte Raum- und Beleuchtungskonzept der Läden hat den Charme von Baumärkten (wobei die sich ja neuerdings eher wieder auf die Atmosphäre des gemütlich-kompetenten Fachhandels besinnen). Ohnehin hat sich der Spielzeugverkauf von den teils nur noch wie Outlets belieferten Ladengeschäften ins Internet verlagert. Und dort kann sich auch im Spielwarenbereich der Fachhandel gegenüber Amazon und Ebay kaum halten; gerade hat die Ladenkette BR Spielwaren mit zehn Filialen in Hamburg Insolvenz angemeldet.
Dass die Weihnachtseinkäufe vor allem Stress bedeuten, der durch rechtzeitige Besorgungen oder Internetkauf vermieden werden kann, ist längst zum Kalauer des ohnehin offen mit Zwangscharakter vollzogenen Warenfetischismus geworden. Kinder sind bei der Erledigung der Weihnachtseinkäufe eher hinderlich. Die leuchtenden Kinderaugen, die freilich in der Reklame noch immer präsentiert werden, bekommt man in den Spielwarenabteilungen und -geschäften kaum noch zu sehen; stattdessen lässt sich in diesen Tagen oft beobachten, wie Kinder regelrecht zwischen den Regalen durchgezerrt werden, angewiesen, sich doch bitte für Weihnachten irgendwas auszusuchen.
Paradiese für Kinder ohne Erwachsene
Kaum sieht man Kinder ohne Begleitung von Erwachsenen in den ihnen zugedachten Paradiesen. So erinnere ich es aber noch aus meiner Kindheit, und auch wenn es wahrscheinlich nur ein-, zweimal passierte, habe ich es doch als ewiges Bild festgehalten: Ich bin alleine in der Spielwarenabteilung bei Karstadt, meine Eltern sind unterwegs, machen Weihnachtsbesorgungen. Ich sehe mir alles an, habe unendlich Zeit. „Nur mit den Augen gucken“ soll ich als Leitgebot befolgen; ich halte mich nicht immer daran.
Über die neuen Angebote von Lego, Playmobil und der damals noch aktiven Konkurrenz Play Big habe ich schnell einen Überblick gewonnen. Hinter Glasvitrinen und am Tresen gibt es Modelleisenbahnen und Zubehör, alles detailliert und in Miniatur, in den Nenngrößen HO, N und – 1972 von Märklin eingeführt – Z.
Mein eigentliches Ziel sind aber die Holzregale, die einen eigenen Bereich bilden: In einem kleinen Gang, der – wie ich es wohl sehr romantisiert verzerrt in Erinnerung habe – nur mit indirekter Beleuchtung ausgestattet ist, wird auf einigen Metern das Gesamtprogramm der Fahrzeuge von Wiking-Modelle angeboten, kleine Kunststoff-PKWs und -LKWs im Maßstab 1:87. Meine Eltern wussten mich in Sicherheit, ich wäre niemals auf die Idee gekommen, diesen Ort, der mir beinahe Wallfahrtsstätte war, zu verlassen.
Der große Säkularisierungsfortschritt, den der Konsumkapitalismus einst bedeutete, nämlich aus dem von der christlichen Kirche selbst verballhornten Weihnachtsfest (bei uns hat im von kleinen Kindern vorgeführten Krippenspiel auch Darth Vader seinen Auftritt und sagt dem Jesus-Baby mit ungeübt sonorer Stimme: »Ich bin dein Vater!«) ein an materiellen wie metaphysischen Bedürfnissen orientiertes Fest der Geschenke gemacht zu haben, zeigt nunmehr gerade auch im Spielzeugbereich offen seine dialektische Seite des Rückschritts: Die von der Reklame vermittelten Bilder der Bescherung muten wie pawlowsche Versuchsanordnungen an, bei denen Wunsch und Wunscherfüllung wie ein infantiles Reiz-Reaktions-Schema präsentiert werden; auf den Postern halten sediert wirkende Kinder in Festtagskleidung mit der versteinerten Miene vermeintlicher Glückseligkeit Riesenberge von pädagogisch geprüftem Plastikmüll in den Händen.
Solcher Kitsch vermag kaum die Trostlosigkeit zu kaschieren, die heute den im kalten Neonlicht erstrahlenden Spielzeughandel dominiert. Die einst als Paradiese gepriesenen Orte der Kindheit sind heute verlassen und verloren.
Roger Behrens, Jahrgang 1967, hätte gerne seinen Legokasten Universal Basic Set 140 (mit Motor) zurück
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen