Dammriss und Dosenravioli

Wie prägt einen das Milieu und die Umgebung, in der man aufwächst? Anke Stelling und Helene Hegemann lesen im Mastul aus ihren aktuellen Romanen – und es lassen sich spannende Vergleiche ziehen

Bücher als „Wahrheitsfinder“: Anke Stelling (l.) und Helene Hegemann lesen im „Mastul“ im WeddingFoto: Piero Chiussi

Von Marc Feuser

Rohputzwand und Blümchentapete: Im Mastul ganz in der Nähe der Weddinger Seestraße liegt beides ganz dicht beieinander, was irgendwie gut zu den beiden Erzählungen passt, die an diesem Abend gelesen werden: „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling und „Bungalow“ von Helene Hegemann. „Nochnichtmehrdazwischen“ nennt sich der Abend, bei dem die beiden Autorinnen lesen und Fragen beantworten.

Anke Stelling trinkt Früchtetee, ist ziemlich erkältet. Helene Hegemann trinkt Wasser, ist „überhaupt nicht krank“. Die beiden sitzen auf einer beige-gemütlichen Couch, neben ihnen die beiden Moderatorinnen, die sich in ihren Rollen noch etwas unwohl zu fühlen scheinen.

Die Geschichten, die sie als Veranstalterinnen ausgewählt haben, funktionieren zusammen harmonisch – wobei „harmonisch“ ein komischer Begriff ist, wo beide doch stellenweise wie eine Dystopie anmuten. Sie erzählen von Entfremdung. Die mehr oder weniger erwachsenen Protagonistinnen distanzieren sich von dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind. Es geht um Dammrisse und Dosenravioli, witzeln die Moderatorinnen. Und irgendwie haben die Geschichten auch mit dieser Bar zu tun, dem Mastul im Wedding.

Resi („Schäfchen im Trockenen“) ist resigniert. Einst hatte sie große Hoffnungen und Utopien, bis sie feststellen musste, dass die Welt um sie herum eher immer schlechter als besser wird. Sie ist Schriftstellerin, verarbeitet ihre kritische Sicht auf die Welt in ihren Werken und lässt ihre Freundinnen ungefragt Teil dieser Geschichten werden. Die sind in ein Prenzlberger Hausprojekt gezogen. „Gäste, die laut Ah und Oh rufen, während sie mit Obstsalat im Arm die neue Wohnung begutachten – glanzlackierte Fronten, kindergesicherte Schubladen“, liest Stelling.

Die WBS-Gegend

Charlie („Bungalow“) ist um die Jahrtausendwende geboren und wohnt in einem Viertel, als dessen reale Inspiration das Hansa­viertel dient: Sozialbauten umzingeln ein paar wenige Bungalow-ähnliche Häuser, in denen die Reichen wohnen. Charlie blickt oft auf sie herunter, denn sie wohnt im Sozial-Hochhaus. Tote Ratten auf dem Gehweg. Hegemann liest schnell, monoton, verspricht sich. „Um hier zu wohnen, braucht man kein Geld, sondern einen Wohnberechtigungsschein.“

Das erinnert einen an das Mastul. Und die Gegend rund um die Liebenwalder Straße, in der die Bar zu Hause ist. Die Seestraße ist um die Ecke, das Viertel erinnert an Neukölln vor der Gentrifizierung. WBS-Wohnungen wird es hier auch geben. Doch die Liebenwalder Straße fällt raus. Gründerzeitbauten und Holzdielenboden – auch hier im Mastul.

Resi fühlt sich wohl als Kind, war glücklich und idealistisch. Kommt aus der behüteten Stadt. Charlie nicht. Die eine lernt Laufen auf Teppichboden, die andere auf abgeschliffenen Holzdielen. Spannende Vergleiche, die man zwischen den Romanen ziehen kann.

In beiden Büchern geht es um Machtverhältnisse, um Voraussetzungen und Chancen – und um Kindheit. „Kann man über soziale Unterschiede sprechen, ohne über Kinder zu reden?“, fragt die Moderatorin.

Nein, glaubt Stelling, „denn Kinder sind ausgeliefert. Sie haben keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen, ihr Lebensumfeld zu hinterfragen und es proaktiv zu verändern.“ Hegemann nickt beipflichtend.

Charlie gelingt die Flucht aus dem Hochhaus, Resi wird der Mietvertrag im Prenzlberg gekündigt. Charlie zieht irgendwann selbst in einen der Rich-Kids-Bungalows – doch das hat einen Preis. Macht sie das zu einem glücklicheren Menschen? Resi muss hingegen aus ihrer Wohnung raus, samt Kindern.

Wie uns das nun prägt, das Aufwachsen in verschiedenen Umgebungen, das sind wichtige Themen beider Erzählungen. Absolute Gleichheit wird es vermutlich nie geben, sind sich die beiden Autorinnen sicher.

Letztlich geht es um Voraussetzungen, um Privilegien. Was denn ihr Lieblings-Weltuntergangsszenario sei, will noch einer von den Autorinnen wissen. Nein, so richtig vom tieferen Sinn geküsst wird man nicht in den Abend entlassen, aber „unsere Bücher sind auch viel mehr als Denkanstöße denn als Wahrheitsfinder gedacht“, sagt Stelling dazu und Hegemann lacht.