Kolonialgeschichte in Kenia: „Die Bücher richten sich an Weiße“
Viele Bücher in Bibliotheken in Nairobi stammen aus Kolonialzeiten. Eine Verlegerin und eine Schriftstellerin wollen das ändern.
Während die Innenstadt Nairobis mit ihren modernen Glasfassaden und Wolkenkratzern ständig weiter in den Himmel wächst, scheint in dem alten Kolonialbau die Zeit stehengeblieben zu sein. Der Empfangscounter ist von zwei riesigen Elefantenstoßzähnen geschmückt.
Auf einem Bücherregal brüllt ein steinerner Tiger in den Saal. Etwa ein Dutzend Menschen sitzen an den dunklen, massiven Holztischen im mintgrün gestrichenen Hauptsaal. Ein paar ältere Herren lesen Zeitung, die jüngeren Leute sind in ihre Aufzeichnungen vertieft. Bibliotheksbücher finden sich bei niemandem auf dem Tisch.
„Gerade kommen Leute hier vor allem her, um in Ruhe zu lesen. Die Bücher interessieren kaum jemanden. Es handelt sich um sehr alte Werke, und es sind fast ausschließlich europäische Autoren. Die Bücher richten sich an weiße Leser.“ Wanjiru Koinange verzieht den Mund zu einem sarkastischen Grinsen: „Es war ja auch nie vorgesehen, dass wir diese Räume nutzen würden.“
Wanjiru Koinange
57 Jahre nach der Unabhängigkeit Kenias gehören die rassistischen Kolonialgesetze zwar der Vergangenheit an, und Orte wie die McMillan-Bibliothek sind für alle offen. Doch eine umfassende Auseinandersetzung, wie mit dem kolonialen Erbe umgegangen werden soll, welche Narben solche und andere Orte im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung hinterlassen, ließen bislang auf sich warten. Deshalb hat die Schriftstellerin Koinange gemeinsam mit der Verlegerin Angela Wachuka vor anderthalb Jahren das Book-Bunk-Projekt gegründet.
„Ich arbeite seit zehn Jahren als Verlegerin afrikanischer Literatur“, erzählt Wachuka, „irgendwann fragt man sich: Für wenn verlegen wir diese Bücher eigentlich. Ist das die reiche Oberschicht? Es kann nicht sein, dass man zu Literatur nur Zugang hat, wenn man Geld hat, sich die Bücher zu kaufen. Moderne afrikanische Literatur muss allen zugänglich sein.“
Bibliotheken ins 21. Jahrhundert überführen
Wachuka hat eine ruhige und bodenständige Art. Sie ist weit über Nairobis Literaturszene bekannt und hat mit Weltstars wie der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Adichie gearbeitet. Zum heutigen Termin trägt sie Jeans und Turnschuhe. Ihre Kollegin Koinange ergänzt: „Das Anliegen unseres Projektes ist es, die McMillan-Bibliothek und zwei andere öffentliche Büchereien in Nairobi ins 21. Jahrhundert zu überführen. Das betrifft den Bücherbestand, aber auch den Zustand der Bibliotheken. Die Häuser müssen renoviert werden.“
Die 32-jährige Schriftstellerin trägt weiße Turnschuhe, schwarze Puderhosen und passend zu ihrer Mission prangt ein glitzerndes Superman-Zeichen auf ihrer Brust. Was die beiden bücherliebenden Frauen vor haben – das wird an diesem Samstag sichtbar – ist tatsächlich ein wahres Superfrauenprojekt.
In einem schwarzen Reisebus nehmen sie heute rund 20 Teilnehmer*innen mit auf einen zweistündigen Kurztrip in ihr Bibliotheksprojekt. Die Touren, die im nächsten halben Jahr jeden zweiten Samstag stattfinden, sollen nicht nur potenzielle Geldgeber anlocken.
Sammelsurium absurder Literatur
„Unser Projekt steht noch ganz am Anfang. Diese Touren sollen den dringenden Renovierungs- und Inventurbedarf der Bibliotheken sichtbar machen. Er soll aber auch eine Diskussion anstoßen: Wie gehen wir mit diesen Orten um? Was wollen wir erhalten, was soll weg?“, eröffnet Koinange die Tour.
Nach einer 20-minütigen Busfahrt vorbei an belebten Straßenmärkten und quer durch einen Industriepark erreichen wir die Makadara-Bibliothek. Sie liegt in einer ruhigen Wohngegend, wurde 1970 eröffnet und ist die Jüngste der drei Büchereien. Die Bibliothek ist bis zum letzten Platz besetzt. Hauptsächlich Jugendliche und junge Erwachsene stecken die Nasen in ihre Hefte.
Und auch hier: Die Bücher, die in den Regalen stehen, interessieren kaum jemanden. Es ist ein Sammelsurium absurder Literatur: Vom Tabakanbau über Uraltreiseführer in alle möglichen Westeuropäischen Länder. Teilweise sind die Bücher so alt und zerfleddert, dass man sich kaum traut, sie anzufassen.
Häuser von außen robust, innen katastrophal
Es scheint, als könnten sie jeden Moment auseinanderfallen. Ein Buch über „Gardening“ sticht mir ins Auge. Publiziert erstmals 1956 – das letzte Mal entliehen, laut Stempel, im Mai 1966 – also noch vor der Eröffnung der Bibliothek in Makadara. Wie kann das sein?
„Tatsächlich“, so erklärt Francis Mitugo, ein Mitarbeiter vom Book-Bunk-Projekt, „hat die Bibliothek bei ihrer Eröffnung 1970 gar keine eigenen Bücher erhalten. Die Verwaltung hatte einfach einige Bücher aus der Zentrale, der alten McMillan-Bibliothek im Zentrum der Stadt, hier herübergeholt.“ Bücher für ihr Studium oder einfach zum Lesevergnügen, das bestätigen auch die Studierenden, gibt es nicht.
Die Situation in der Kaloleni-Bibliothek, der zweiten Bibliothek unserer Tour, ist ähnlich. Wie alle Häuser in der Wohnsiedlung ist auch die Bücherei ein altes Steinhaus mit rotem Ziegeldach. Das Gebäude sowie das daneben liegende Gemeindezentrum wurden während des 2. Weltkrieges von italienischen Kriegsgefangenen für die Briten gebaut.
Mit seinen typischen alten Bauten ist Kaloleni nicht nur eines der ältesten noch bestehenden Viertel Nairobis. Das Gemeindezentrum beherbergte auch Kenias erstes Parlament. Präsident Kenyatta und andere Politiker seiner Zeit haben hier am Vorabend der Unabhängigkeit getagt.
„Der Zustand der Bibliothek ist schlimm“
Während die alten Häuser von außen robust wirken, ist der Zustand innen katastrophal. Und das betrifft nicht nur den bröselnden Putz an Wänden und Decken, sondern vor allem auch den Bücherbestand. Auch hier sind viele Publikationen mehrere Jahrzehnte alt. Von afrikanischen Autor*innen oder Kinder- und Jugendbüchern für die jungen Nutzer*innen keine Spur.
Doch auch in Kaloleni sind die Tische voll besetzt. Vor allem Schulkinder kommen hierher, um ihre Hausaufgaben zu machen und sich auf Prüfungen vorzubereiten. Zu Hause, so erklärt der 12-jährige James Peter, ist es ihm zu unruhig zum Lernen. Die Geschwister spielen oder die Nachbarn machen Krach. In der Bibliothek kann er sich besser konzentrieren.
Die Studentin Merihana Mekanda, die mit im Tourbus sitzt, ist über den Zustand der Bibliothek schockiert: „Ich bin wirklich sehr enttäuscht. Der Zustand der Bibliothek ist schlimm. Die kenianische Regierung sollte mehr Verantwortung für solche Orte übernehmen. Denn wer will an so einem Ort lernen?“
Wachuka und Koinange planen aus dem heruntergekommenen Saal in Kaloleni eine Kinderbibliothek zu machen. „Wir haben zu allen drei Orten Nutzerstudien durchgeführt, da wir die Menschen, die die Büchereien besuchen in den Neugestaltungsprozess einbeziehen wollen.“ Koinange deutet auf den Fußballplatz, der gegenüber der Bibliothek liegt, „hier in Kaloleni kommen auf Grund der Lage hauptsächlich Kinder in die Bibliothek. Deswegen brauchen wir hier logischerweise auch kindergerechte Literatur.“
Stadtverwaltung unterstützt ideell
Zurück im Stadtzentrum führt uns die Tour als letzte Station in das ehemalige Zeitungsarchiv im Keller der McMillan-Bibliothek. Hier hat man dann fast den Eindruck, in den zwei hellblauen Samtsesseln hätten gerade noch britische Lords gesessen und Tee getrunken.
In einer Kommode verbirgt sich ein ganzes Fotoarchiv mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus unterschiedlichen Regionen Kenias, Anfang des 20. Jahrhunderts. Eindrücke des Landes durch die Linse der Kolonialherren. Sie liegen hier ungeordnet und vergessen in der Schublade.
Die umfassende Inventur und vor allem die Renovierung kosten natürlich eine Menge Geld. Allein die Modernisierung der McMillan-Bibliothek wird nach den Plänen, die die beiden Frauen gemeinsam mit der Stadtverwaltung erarbeitet haben, rund eine Millionen Dollar kosten.
So viele Bibliotheken wie Kirchen oder Bars
Die Unterstützung der Stadtverwaltung ist nur ideeller Art. Dass sie im März dieses Jahres überhaupt die Erlaubnis bekommen haben, sich der drei Bibliotheken anzunehmen und einen Modernisierungsplan zu entwerfen, ist für die beiden aber bereits ein Riesenerfolg.
„Wir fangen mit der Inventur der Bestände der McMillan-Bibliothek voraussichtlich Anfang nächstes Jahr an. Dafür sind wir natürlich auch auf die Mehrarbeit der Bibliotheksangestellten angewiesen, die ja von der Stadt bezahlt werden“, sagt die Verlegerin Wachuka pragmatisch, „indirekt unterstützt uns die Stadt also hier zum Beispiel doch.“
Unterstützung, so finden beide Frauen, muss nicht immer an Geld gebunden sein. Trotzdem sind sie natürlich auf erhebliche Summen durch private Geldgeber angewiesen. Doch Koinange ist optimistisch: „In zehn Jahren sollen die ersten drei Büchereien modernisiert sein. Ich glaube, dass wir genau so viele Bibliotheken in diesem Land haben können wie Kirchen oder Bars. Der Bedarf ist einfach da.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste