Die Kunst der Revolution

Ohne Abweichung keine Freiheit – warum sich die Kultur der Politik niemals unterordnen darf

Die Künstlerin und Dadaistin Hannah Höch (1889-1978) mit ihren Figuren Paxa und Botta, um 1920 Foto: Willy Römer/bpk

Von Andreas Fanizadeh

Für die Novemberrevolution spielte die Kunst unmittelbar keine Rolle. Wie sollte sie auch? Ging es doch darum, Monarchie und Generäle zur Abdankung zu zwingen. Ansonsten hätten weitere Hunderttausende sinnlos ihr Leben auf den Schlachtfeldern verloren. Und was noch schwerer gewogen hätte: Der Kaiser wäre ins Reich zurückgekehrt, um die Demokratiebewegung zu massa­krieren. Sofern in solch zugespitzter Situation Kunst eine Rolle spielt, dann zuvor, da sie half, der Revolution kulturell den Boden zu bereiten.

Mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs verlor das Feudalregime auch in Deutschland mehrheitlich seine Anhänger. Künstler und Schriftsteller, die zu Kriegsbeginn noch in Scharen in die Gemetzel rivalisierender imperialistischer Staaten zogen, kehrten ernüchtert und verbittert zurück. Angesichts des Massenmordens hatte die alte Ordnung jegliche moralische Legitimität verspielt. Das Volk als Nation war nicht mehr bereit, sich vereint im Körper des Kaisers und feudalen Führers zu sehen.

Und auch in Kultur und Kunst war dem gottgleichen Geniekult längst die ein oder andere Delle verpasst worden. In den brodelnden Städten waren künstlerische Boheme-Szenen entstanden, die sich um die Bewertung von Universitäten oder Doktoren-Feuilletons kaum mehr scherten. Die alten Notenverteiler waren am Ende.

Die Soldaten desertierten in Massen aus der kaiserlichen Armee, viele Menschen – und beileibe nicht nur die Anarchos, Künstler und Dadaisten – desertierten aus „bürgerlichen“ Lebensformen. Pazifismus, Veganismus, Libertinage – gesellschaftlich stand vieles hoch im Kurs, wollte ausprobiert werden. Schon bald sollte 1919 das Bauhaus in Weimar gegründet werden. Weltweit steht es für den Lebensstil der klassischen Moderne in Architektur, Kunst und Kunsthandwerk. Der politischen Rechten war es von Anfang an verhasst.

In Berlin waren die Übergänge von den Dadaisten zu den Spartakisten ­fließend. Künstler wie Raoul Hausmann, Hannah Höch, George Grosz, John Heartfield oder Franz Jung standen dem Linksaktivismus nahe. Grosz und Heartfield veröffentlichten 1920 in der Zeitschrift Der Gegner ihren Text „Der Kunstlump“. Sie verspotteten darin den expressionistischen Maler und Professor Oskar Kokoschka als „Schöpfer ‚psychologischer‘ Spießerporträts“. Nachdem sich eine Kugel in ein Rubens-Gemälde im Dresdner Zwinger verirrte, hatte Kokoschka die Bürgerkriegsparteien aufgefordert, sich draußen vor den Toren der Stadt zu beschießen, damit des Volkes „heiligste Güter“ keinen Schaden nähmen.

Die Oktoberrevolution in Russland strahlte auf die intellektuellen, künstlerischen und linksaktivistischen Szenen in Deutschland aus. Bis heute klingen Losungen wie die vom „Neuen Menschen“ nach. Die Revolution war 1918/19 weit davon entfernt, auf den leninistischen Bolschewismus festgelegt zu sein. Sie war eine fantastische, oft spontane Inszenierung, in die viele das hineinimaginierten, was sich an Utopien im Laufe von Jahrhunderten angesammelt hatte.

Auf den revolutionären Umzügen in der entstehenden Sowjetunion konnte man in den 1920er Jahren eine noch offene Kunstpraxis sehen. Figuren, Street-Art und Konzeptkunst, die einen symbolisch widersprüchlichen und spielerischen Umgang mit Formen und Vorstellungen nahelegen, kulturrevolutionäre Momente festhalten, die der totalitären Linie des später durchgesetzten sozialistischen Realismus sehr stark zuwiderliefen. Historische Aufnahmen zeigen auf revolutionären Umzügen Mensch-Maschinen-Wesen, Kraftfahrzeuge mit Elefantenrüsseln aus Pappmaschee, karnevaleske Figuren, die an die diverse Assoziationskraft des Einzelnen appellieren und vielleicht gar auf so etwas wie auf den unkontrollierbaren Spaß zielen. Die Bilder erzählen von einer Phase, als es noch eine Partizipation von unten und einen künstlerisch-kulturellen Ausdruck davon gab. Die Bolschewisten waren zwar schon die Chefs, verfügten aber noch nicht über die Individuen. Erst in der späteren Phase der verstaatlichten Revolution sollte die Kunst der Politik untergeordnet werden, parallel zum großen stalinistischen Terror der 1930er Jahre.

Die Avantgarde-Bewegungen außerhalb Russlands haben die Entwicklung in der Sowjetunion in jener Zeit genau verfolgt. Viele waren in den 1920er Jahren in die noch junge Sowjetunion gereist. Der Mitbegründer von Dada-Berlin, Franz Jung, eine legendäre Gestalt des deutschen Linksaktivismus, entführte gar ein Schiff in die Sowjet­union. Er engagierte sich beim Aufbau einer Zündholzfabrik – und erlebte früh die gegen jegliche Form des Liberalismus gerichtete neue Zwangsherrschaft, völlige Willkür, einen neuen imperialer Nationalismus, der statt dem Zaren nun dem bolschewistischen Parteiführer huldigte.

Im Grunde bis heute bekämpfen sich aus diesen Konfliktlagen hervorgegangene künstlerische und politische Strömungen auf der gesamten Welt. Über Dada, Surrealismus, Situationismus und viele andere führt der Weg in Kunst und Subkultur schließlich auch zu Pop und Punk, zu den neuen Jugendkulturen sowie den Konzepten einer künstlerisch und kulturell agierenden Linken. Sie alle mussten sich erbittert gegen Vereinnahmungsversuche politischer Strömungen wehren. Je freier die Kunstsprachen dabei auftreten, je abstrakter oder auch nur mehrdeutiger sie agieren, desto stärker sind sie dabei willkürlichen Deutungen ausgesetzt. Ein problematisches und immer umkämpftes Verhältnis, weil es ohne Viel- und Mehrdeutigkeit in der Kunst und Gesellschaft keine Freiheit geben kann.

Das aber ist genau das, was auch viele linke Szenen bis heute oft nur schwer begreifen: Die funktionale Unterordnung von Kunstsprachen unter die angeblichen politischen Notwendigkeiten markiert immer das Ende der Kunst und der Freiheit überhaupt. Und sie würde immer das Gegenteil von dem bewirken, was man gemeinhin in der Linken als Ziel propagiert: die Errichtung einer gerechteren Gesellschaft. Denn diese lebt, wie alle wissen könnten, nicht vom Brot allein, sondern eben auch von einer auf radikaler Individualität begründeten Kultur. Wie sollten sich denn sonst Menschenrechte über ein freies „Kollektiv“ in Gesellschaften und Nationen übersetzen können? Die dogmatische (Klassenkampf-)Linke hat dies immer negiert. Und sie tut bis heute so, als wären die lebensexperimentellen und sexuellen Abweichungen, die radikal-existenzialistischen Kunstauffassungen ein rein bourgeoiser Luxus. Bestenfalls Nebenwidersprüche.

Sie sind es nicht. Sie sind das Wasser, nicht der Wein. Wovon auch das Elend des real praktizierten Proletarismus berichtet, dessen totalitäre Hinterlassenschaft im Niedergang der sowjetischen Reichsidee von Putin und der Neuen Rechten vollständig kooptiert wurde.

Jeder Form temporär radikaler Kunst wohnt das Moment des minoritären Sprechens inne. Das bringt die kreative Erneuerung und Erweiterung der Systeme nun einmal mit sich. Auch dass man ihre Sprachen erlernen und beherrschen muss, um sie bewerten und interpretieren zu können. Um herauszufinden, ob Leute links blinken, um rechts abzubiegen, oder vielleicht einfach nur künstlerisch verbrämt Esoterik oder elitäre Angeberei betreiben. Wer jegliches minoritäre kulturelle Sprechen als intellektuelle Bedrohung oder Überheblichkeit empfindet („fühle mich nicht mitgenommen“, „bringt keine Klickzahlen“), betreibt von links das gleiche Spiel wie die populistische Rechte. Am Ende steht auf beiden Seiten jeweils die Formierung einer neuen autoritären Gesellschaft, gegen die nicht nur die Kieler Matrosen einst kämpften. An ihrer Stellung zur Kunst könnt ihr sie erkennen.

Andreas Fanizadeh ist taz-Redakteur