: Er spielte Herr über Leben und Tod
Weil er Lob und Anerkennung wollte, tötete der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel vermutlich über 100 Menschen. Am Dienstag begann ein neuer Prozess. Doch damit wird der Fall nicht abgeschlossen sein, denn auch ehemalige KollegInnen werden sich verantworten müssen
Von Marthe Ruddat
Ob die Vorwürfe, die ihm in diesem Prozess gemacht werden, größtenteils zutreffen, will Richter Sebastian Bührmann wissen. „Ja“, sagt der Angeklagte. Er nickt. „Das, was halt zugegeben worden ist, das ist auch so.“
Am ersten Tag des Prozesses gegen Niels Högel hat der ehemalige Krankenpfleger gestanden, mehrere PatientInnen getötet zu haben. Bereits in der Vergangenheit hatte er dutzende Taten eingeräumt. Ein so kurzer Satz zu einem Anklagevorwurf sei aber juristisch lediglich die Ankündigung eines Geständnisses, sagte Melanie Bitter, Sprecherin des Landgerichts Oldenburg. Die Kammer müsse im Laufe des Prozesses in jedem einzelnen Fall prüfen, ob sich Högel daran erinnere.
Vermutlich hat in der deutschen Nachkriegsgeschichte niemand so viele Menschen ermordet wie Niels Högel. Ihm wird vor dem Oldenburger Landgericht ein weiterer Prozess gemacht. Der Vorwurf: einhundertfacher Mord, heimtückisch und aus niederen Beweggründen. Die Taten soll er zwischen Februar 2000 und Juni 2005 am Klinikum Oldenburg und am Delmenhorster Klinikum begangen haben.
Laut Anklage spritzte Högel den ihm anvertrauten PatientInnen nicht angeordnete Stoffe oder Medikamente, um bei ihnen lebensbedrohliche Situationen hervorzurufen und sie heldenhaft reanimieren zu können. Mehr als hundert Menschen starben aber dabei. Die Tatwaffen: Kalium, Gilurytmal, Sotalex, Xylocain und Cordarex.
Wegen des großen öffentlichen Interesses und der zahlreichen NebenklägerInnen wurde die Oldenburger Weser-Ems-Halle zum Gerichtssaal umfunktioniert. Knapp 300 Stühle sind aufgebaut. Über den Plätzen für die Richter und Schöffen hängen zwei große Leinwände. Sie machen möglich, dass alle Anwesenden Högel bei seiner Aussage ins Gesicht schauen können.
Es ist kurz nach neun Uhr morgens, als Högel den Gerichtssaal betritt. Er hält sich eine aufgeklappte blaue Aktenmappe vor das Gesicht. Högel trägt dunkelblaue Jeans und eine dunkelblaue Jacke. Er ist kräftig gebaut, wirkt gepflegter als auf älteren Bildern. Das lange Deckhaar ist nach hinten gekämmt, die Seiten kurz rasiert. Högel trägt Vollbart.
Bevor Richter Bührmann mit Högels Vernehmung beginnt, begrüßt er die Anwesenden. Er stellt die Verfahrensbeteiligten vor und wendet sich an die NebenklägerInnen. Er erklärt, dass im Prozessverlauf viel Fachsprache benutzt werden wird. Die Nebenkläger mögen das bitte nicht als Kälte gegenüber den Opfern empfinden, das Gericht müsse eine gewisse Sachlichkeit wahren. Er sicherte den Angehörigen aber zu: „Wir werden mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen.“
126 Angehörige von möglichen Opfern haben sich dem Verfahren angeschlossen. Nicht alle sind zum Prozessauftakt gekommen, einige der für sie reservierten Plätze in den ersten Reihen bleiben leer. 17 AnwältInnen vertreten die Nebenklage, zehn OpferbetreuerInnen stehen ihnen zur Seite.
Niels Högels Taten sind längst bekannt. Doch die Verantwortlichen in den Kliniken haben lange geschwiegen. Gaby Lübben, die mehr als 100 Hinterbliebene vertritt, hatte in der Vergangenheit schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden erhoben, sprach von einem „neun Jahre dauernden Ermittlungsboykott“. Schon 2006 sei klar gewesen, dass die Todeszahlen während Högels Schichten in die Höhe schnellten. Und 2012 hätten Aussagen von Mithäftlingen vorgelegen, nach denen sich Högel selbst als „den größten Serienmörder der Nachkriegsgeschichte“ bezeichnet hatte. Bei 50 Toten habe er aufgehört zu zählen.
Högel wurde 2006 wegen versuchten Totschlags an Dieter M. verurteilt. Weil das Urteil angefochten wurde, wurde Högel erst 2008 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt und konnte bis dahin weiter als Krankenpfleger arbeiten.
Erst auf intensives Drängen von Angehörigen wurden dann weitere Ermittlungen aufgenommen. Acht Leichen wurden exhumiert, ein weiterer Prozess folgte 2015. Högel erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Erst im Laufe dieses Prozesses, als das Ausmaß von Högels Taten nicht mehr ignoriert werden konnte, richtete die Polizei die Sonderkommission „Kardio“ ein. 134 Leichen auf 67 Friedhöfen wurden exhumiert. In mehr als 130 anderen Fällen konnte kein Verbrechen nachgewiesen werden, weil die Leichen verbrannt worden waren.
Richter Bührmann ruft am Dienstag zu einer Schweigeminute auf. Dabei solle auch der Menschen gedacht werden, deren Fälle bereits verhandelt wurden. Er verliest sechs Namen. Die Anwesenden erheben sich, auch Högel. Er schaut zu Boden. Den Blick ins Publikum vermeidet er während des gesamten ersten Prozesstages. Er wirkt ruhig, schaut geradeaus ins Leere oder zum Richter. Auch während der Anklageverlesung.
Staatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann wirft dem Angeklagten vor, Menschen getötet zu haben, um seine Fähigkeiten der Reanimation vor KollegInnen und Vorgesetzten präsentieren zu können. Und um seine Langeweile zu bekämpfen. Mehr als eine Stunde der Anklageverlesung gilt den einhundert Schicksalen von Menschen, die Niels Högel getötet haben soll, meist älteren PatientInnen. So wie Elisabeth S., die am 7. Februar 2000 gestorben ist. Högel soll ihr eine tödliche Dosis Xylocain gespritzt haben. Erwin T. bekam 2001 eine Überdosis Kalium. Magdalena B. starb 2004 an einer Gabe Gilurytmal. In jedem der einhundert Fälle habe Högel den Tod der Menschen zumindest billigend in Kauf genommen, so die Anklage.
Der heute 41-Jährige ist in Wilhelmshaven geboren. Sein Vater war Krankenpfleger, die Mutter Rechtsanwaltsgehilfin. „Ich bin behütet und beschützt aufgewachsen und habe keinerlei Gewalt erfahren“, sagt Högel in seiner Vernehmung. Schon früh habe er den Wunsch gehabt, Krankenpfleger zu werden.
1999 fing Högel auf der kardiologischen Intensivstation des Klinikums Oldenburg an. Die Ermittlungen der Polizei weisen darauf hin, dass er dort seine Mordserie begann. Högel selbst sagt am Dienstag, er habe schon 2002 befürchtet, aufgeflogen zu sein. Der Oldenburger Klinikdirektor habe ihm damals gesagt, er solle kündigen oder würde ab dem nächsten Tag als Hausmeister arbeiten. Högel kündigte – und bekam ein Arbeitszeugnis mit auf den Weg, das ihm bescheinigte, „umsichtig, gewissenhaft und selbstständig“ gearbeitet zu haben.
Auch bei seinem neuen Arbeitgeber in Delmenhorst gab es Gerede unter den KollegInnen. Doch gemeldet wurde Högel erst, als er erwischt wurde.
Högel sagt, schon sein Wechsel nach Oldenburg sei ein Fehler gewesen. Der Leistungsdruck und der Stress seien zu hoch gewesen. Högel begann Medikamente zu nehmen, damit sei es leichter gewesen, sagt er. Högel spricht klar und deutlich. Manchmal wirkt es, als habe er sich die Sätze vorher zurecht gelegt. Er bezieht sich immer wieder auf die Gutachten, die über ihn erstellt wurden, ist bemüht, in der Ich-Perspektive zu antworten. Einmal fällt ihm auf, dass ihm das nicht gelungen ist. Er korrigiert sich: „Nicht man, sondern ich.“
Ein Fall Högel soll sich nicht mehr wiederholen, darüber war sich die niedersächsische Politik einig. 2014 setzte die Landesregierung den Sonderausschuss „Stärkung der Patientensicherheit und des Patientenschutzes“ ein. Knapp eine Woche vor Prozessbeginn wurde nun eine auf dessen Abschlussbericht beruhende Novelle des niedersächsischen Krankenhausgesetzes beschlossen. Sie sieht unter anderem vor, dass in allen Kliniken Stationsapotheker eingesetzt werden müssen und jedes Haus ein Whistleblowing-System einrichtet.
Die betroffenen Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst wird der Fall noch weiter beschäftigen. Die Staatsanwaltschaft führt Ermittlungen gegen MitarbeiterInnen aus dem Klinikum Oldenburg. Drei Mitarbeiter aus Delmenhorst werden nach Högels Prozess wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht stehen. Wenn Högel rechtskräftig verurteilt wird, muss er in diesen Prozessen als Zeuge aussagen.
Das Verfahren gegen Högel wird am 21. November fortgesetzt. Bis dahin wird er in seiner Gefängniszelle die Krankengeschichte der Opfer studieren, um die Erinnerung an die Vorfälle aufzufrischen. Als Krankenpfleger verbinde Högel weniger mit den Namen der Menschen, als mit ihren Krankenakten, begründet der Richter.
Bis Prozessende werden 23 Zeugen aussagen. Außerdem sind mehrere Sachverständige geladen. Dabei geht es auch um Högels Glaubwürdigkeit. Noch im letzten Prozess hatte er sämtliche Morde in Oldenburg geleugnet. Am Dienstag sagte er, er habe die Taten verdrängt. „Es war einfach die reine Scham. Es war kein taktisches Gelüge.“
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