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Von Sibirien nach Kreuzberg

In der Friedrichstraße 21, wo heute das neue taz-Haus steht, lebte früher der Naturforscher Peter Simon Pallas. Er wurde für seine teils waghalsigen Expeditionen in den Osten berühmt

Wurde fast von Kosaken erschossen: Peter Simon Pallas Foto: prismaarchivo/picture alliance

Von Helmut Höge

Im Jahr 2014 konnte die taz günstig das Grundstück in der Friedrichstraße 21 erwerben, das bis 2010 der Blumengroßmarkthalle als Parkplatz gedient hatte. Bei Recherchen über Naturforscher im „Zeitalter der Entdeckungen“ fanden wir heraus, dass an dieser Stelle früher ein Wohnhaus stand, in dem am Ende seines Lebens Peter Simon Pallas lebte: einer der wichtigen Naturforscher.

Pallas, geboren 1741 in Berlin, war Professor für Naturgeschichte in Sankt Petersburg und Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften, die im 18. Jahrhundert von deutschen bzw. deutsch-baltischen Wissenschaftlern dominiert wurde. Sie mussten dazu gezwungen werden, auch russische Wissenschaftler in die Akademie aufzunehmen. Daran war Pallas jedoch nicht beteiligt, er erforschte das Land und organisierte zwischen 1768 und 1794 mehrere Expeditionen durch Russland und Sibirien. Seine sogenannten „Akademie-Expeditionen“ wurden von Katharina der Großen gefördert.

Pallas interessierte sich unterwegs für alles: Flora, Fauna, Gewässer, Gebirge, Siedlungen und Völker – ihre Sitten, ihre Feinde und ihre Ökonomie. Sie waren großteils bereits von Russland unterworfen und infolge ihrer Ausbeutung und der dabei eingeschleppten Krankheiten dezimiert worden, wie Pallas feststellte, aber es gab sie noch. Pallas beschrieb ihre Lebensweise ohne westliches Ressentiment. Seine Expeditionsberichte umfassen mehrere tausend Seiten. Da viele der von ihm bereisten Völker vor allem vom Fischfang und der Jagd lebten (die Felle aus Sibirien waren Russlands fast einziges Exportgut – und Gold wert), wurden diese beiden Erwerbszweige bei Pallas ausführlich behandelt.

An der ersten „Kamtschatka-Expedition von 1728 bis 1730“, die Pallas mit organisierte, nahm unter anderem ein Assistent der russischen Akademie der Wissenschaften teil, der Naturforscher Georg Wilhelm Steller. Es ging dabei auch um die Erforschung der Meerenge zwischen der sibirischen Tschuktschen-Halbinsel und Alaska. Der Kapitän Vitus Bering fand sie auch, allerdings wurde sein Schiff wenig später schon vom Eis auf eine kleine Insel westlich von Kamtschatka gedrückt, wo die Mannschaft überwintern musste. Bering starb dort an Entkräftung, die Insel wurde später nach ihm benannt, ebenso die Meerenge – in „Bering-Straße“.

Von Alaska hatten die mitreisenden Forscher nur eine vorgelagerte Insel erkunden können – und das auch nur einen halben Tag. Der junge Georg Wilhelm Steller schimpfte darüber in seinem Bericht „Von Sibirien nach Amerika. Die Entdeckung Alaskas mit Kapitän Bering“, der 1793 von Simon Pallas veröffentlicht wurde: Die „zehn Stunden“, die er in Alaska botanisieren durfte (und dabei immerhin 160 Pflanzen botanisierte) hätten zehn Jahre Vorbereitung gebraucht, insgesamt 3.000 Menschen waren daran beteiligt, viele nicht eben freiwillig.

Selbst auf der Beringinsel verstand es Steller „neben all den Strapazen und Gefahren, die der Überlebenskampf dort mit sich brachte, seine naturkundlichen Beobachtungen fortzusetzen“, heißt es auf Wikipedia. Als die Überlebenden endlich Kamtschatka erreichten, blieb Steller dort und erforschte einige weitere Jahre die Halbinsel sowie die Lebensgewohnheiten der Kamt­schadalen. Er starb auf dem Rückweg nach St. Petersburg in Tjumen. Man nannte unter anderem eine von Steller „entdeckte“ nordische Seekuh nach ihm, die schon bald danach von Walfängern ausgerottet wurde. Die Sibirien-Expeditionen waren anstrengend: Pallas’ Kollege J.P. Falck habe 1774 vor Erschöpfung Suizid begangen, schreibt der Tagesspiegel. „Samuel Gmelin wurde im südlichen Grenzgebiet von einem persischen Khan entführt und starb in der Gefangenschaft, während er auf das geforderte Lösegeld wartete.“ Pallas selbst sei beinahe von umherstreifenden Kosaken erschossen worden, er kehrte nach sechsjähriger Expedition 1774 nach St. Petersburg zurück, „mit einem entkräfteten Körper und schon im dreyunddreißigsten Jahre grauenden Haare“. „Seine 2000 Seiten umfassende ‚Reise durch die verschiedenen Provinzen des Russischen Reiches‘ wurde rasch zu einer der meistgelesenen Schriften des 18. Jahrhunderts,“ heißt es im Tagesspiegel. Und weiter: „Anspruchslos, bescheiden, zurückhaltend bis zur Menschenscheu, hielt Pallas sich von Intrigen und Querelen der Petersburger Akademiker fern.“

Die Zarin vergolt es ihm mit einem Anwesen auf der Krim inklusive Weinberg und zwei Dörfern. Dort trennte sich Pallas 1810 von seiner Frau, die ihn auf seinen Reisen begleitet hatte, und zog mit seinem Enkel und seiner inzwischen geschiedenen Tochter nach Berlin in das Haus seines Bruders August Friedrich Pallas, ein an der Universität lehrender Chirurg. Peter Simon Pallas arbeitete dort an einer „Russisch-Asiatischen Zoologie“, beendete sie jedoch nie. Pallas starb 1811 und bekam ein Ehrengrab auf dem Friedhof am Halleschen Tor. In Schöneberg wurde eine Straße nach ihm benannt.

Schräg gegenüber, im Haus Friedrichstraße 235, lebte der Dichter und Kustos am Berliner Botanischen Garten, Adelbert von Chamisso. Er hatte an der russischen „Rurik-Expedition“ teilgenommen, die von 1815 bis 1818 die Nordwestpassage – den Seeweg nördlich des amerikanischen Kontinents zwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean – erkunden sollte. Die See-Expedition leitete der Kapitän der „Rurik“, Otto von Kotzebue, Sohn des Dramatikers August von Kotzebue. Dieser hatte vom Zaren ein Gut in Estland bekommen und war Sekretär des Generalgouverneurs von St. Petersburg geworden. 1819 wurde er als „Vaterlandsverräter“ vom Burschenschafter Karl Ludwig Sand ermordet.

Pallas’ Reisebericht wurde rasch zu einer der meistgelesenen Schriften des 18. Jahrhunderts

Sein Sohn Otto und Adelbert von Chamisso hatten die gleiche humanistische Gesinnung. Chamissos Bericht „Reise um die Welt“ wurde seinerzeit viel gelobt, er erschien zuletzt 1985 in der DDR. Die Westberliner Dokumentarfilmerin Ulrike Ottinger zeigte 2016 einen zwölfstündigen Film mit dem Titel „Chamissos Schatten“ – über die Halbinsel Tschukotka, die Wrangel-Insel, Kamtschatka, Alaska, die Aleuten und die Bering-Insel, wo Chamisso geforscht hatte.

Bei den Bewohnern den Aleuten, die schwer von kosakischen Pelztierhändlern unterdrückt wurden, merkte Chamisso bei seinen Besuchen, dass sie im Gegensatz zu den westlichen Wissenschaftlern wirklich etwas von Walen verstanden. Er warf die bis dahin gültige, aber falsche Benennung der Arten über Bord und übernahm die der Aleuten-Waljäger. Sie fertigten für ihn zudem kleine Holzplastiken von den verschiedenen Walen an, einige Exemplare befinden sich noch im Museum für Naturkunde.

Seinen Walbericht veröffentlichte Chamisso auf Lateinisch. Die in Norwegen lehrende Literaturwissenschaftlerin Marie-Theres Federhofer, die ihn ins Deutsche übersetzte und ins Internet stellte, schreibt: „Chamissos einzige naturwissenschaftliche Studie über Wirbeltiersystematik ist methodologisch eine originelle Leistung. Er verwendet darin die Kenntnisse einer Urbevölkerungsgruppe, und es gelingt ihm, dieses Wissen in die Ordnung eines europäischen Wissenschaftsverständnisses hinein- und weiter zu vermitteln.“

Chamisso lebte von 1822 bis zu seinem Tod 1838 in der Friedrichstraße 235, wo er an einer „Hawaiischen Grammatik“ schrieb. Eine Gedenktafel erinnert dort an ihn, außerdem benannte man einen Platz in Kreuzberg nach ihm. Sein Grab befindet sich – wie das von Pallas – auf dem Friedhof am Halleschen Tor. Sein Haus in der Friedrichstraße wie ebenso das von Pallas wurden im Krieg weggebombt oder fielen danach der „schöpferischen Zerstörung“ des Kapitals anheim.

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