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Krankenpfleger Niels Högel vor GerichtTatwaffen Sotalex und Gilurytmal

Ein Krankenpfleger soll mehr als 100 Menschen getötet haben. Doch das wollte lange Zeit niemand so genau wissen. Jetzt steht Niels Högel vor Gericht.

Der Angeklagte Niels Högel mochte im Gerichtssaal nicht fotografiert werden Foto: dpa

Oldenburg taz | Ob die Vorwürfe, die ihm in diesem Prozess gemacht werden, größtenteils zutreffen, will Richter Sebastian Bührmann wissen. „Ja“, sagt der Angeklagte. Er nickt. „Das, was halt zugegeben worden ist, das ist auch so.“

Am ersten Tag des Prozesses gegen Niels Högel hat der ehemalige Krankenpfleger gestanden, während seiner Arbeitszeit mehrere PatientInnen getötet zu haben. Bereits in der Vergangenheit hatte er solche Taten eingeräumt. Zu Mithäftlingen soll Högel gesagt haben, dass er bei 50 Toten aufgehört habe zu zählen.

Niels Högel ist vermutlich der größte Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er ist bereits zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Nun wird ihm vor dem Oldenburger Landgericht erneut der Prozess gemacht. Der Vorwurf: einhundertfacher Mord, heimtückisch und aus niederen Beweggründen. Die Taten soll er zwischen Februar 2000 und Juni 2005 am Klinikum Oldenburg und am Delmenhorster Klinikum begangen haben.

Högel spritzte demnach den ihm anvertrauten PatientInnen nicht angeordnete Stoffe oder Medikamente, um bei ihnen lebensbedrohliche Situationen hervorzurufen und sie heldenhaft reanimieren zu können. Doch mehr als hundert Menschen starben. Die Tatwaffen: Kalium, Gilurytmal, Sotalex, Xylocain und Cordarex.

Das Versprechen des Richters

Die Verhandlung findet in der Weser-Ems-Halle statt. Wegen des großen öffentlichen Interesses und der vielen Nebenkläger wurde die Halle, in der normalerweise Konzerte und Flohmärkte stattfinden, zum Gerichtssaal umfunktioniert.

Es ist kurz nach neun Uhr morgens, als Niels Högel den Gerichtssaal betritt. Er hält sich eine aufgeklappte blaue Aktenmappe vor das Gesicht, möchte von den wartenden FotografInnen nicht aufgenommen werden. Högel trägt eine dunkelblaue Jeanshose und eine dunkelblaue Jacke mit weißer Aufschrift. Er ist kräftig gebaut, wirkt im Vergleich zu älteren Bildern gepflegter. Das lange Deckhaar ist nach hinten gekämmt, die Seiten kurz rasiert. Högel trägt Vollbart. Richter Sebastian Bührmann begrüßt alle Anwesenden, und er stellt jeden einzelnen Verfahrensbeteiligten vor. Hinter Bührmann stehen drei Schränke, gefüllt mit Papieren. Es sind die Akten der getöteten Menschen. Bührmann wendet sich an die NebenklägerInnen. Er erklärt, dass im Prozessverlauf viel Fachsprache benutzt werden wird. Die NebenklägerInnen mögen das bitte nicht als Kälte gegenüber den Opfern empfinden, das Gericht müsse eine gewisse Sachlichkeit wahren. Er sicherte den Angehörigen auch zu: „Wir werden mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen.“

Dann ruft Bührmann zu einer Schweigeminute auf. Dabei solle auch der Menschen gedacht werden, deren Fälle bereits verhandelt wurden, erklärt Bührmann. Er verliest sechs Namen. Die Anwesenden erheben sich.

Es ist nicht so, dass Niels Högels Taten erst kürzlich bekannt geworden sind. Man kann aber nicht behaupten, dass der Aufklärungswille in diesem Ermittlungskomplex bei den Beteiligten besonders ausgeprägt gewesen sei. Högel wurde bereits 2006 wegen versuchten Totschlags an Dieter M. verurteilt. Damals hat man ihn auf frischer Tat ertappt. Doch das Urteil wurde angefochten, erst Ende 2008 erfolgte die zweite Verurteilung zu siebeneinhalb Jahren Haft und lebenslangem Berufsverbot. Bis Mitte Mai 2009 konnte der Angeklagte deshalb unbehelligt weiter seinem Beruf nachgehen.

Erst auf intensives Drängen von Angehörigen wurden schließlich weitere Ermittlungen gegen aufgenommen. Acht Leichen wurden exhumiert, ein weiterer Prozess folgte 2015. Högel erhielt eine lebenslange Haftstrafe.

Erst im Laufe dieses Prozesses, als das Ausmaß von Högels Taten nicht mehr ignoriert werden konnte, richtete die Polizei schließlich eine Sonderkommission mit dem Namen Kardio ein. 134 Leichen auf 67 verschiedenen Friedhöfen wurden exhumiert. Bei mehr als 130 anderen potenziellen Opfern konnte kein Verbrechen nachgewiesen werden, weil sie nach ihrem Tod feuerbestattet worden waren.

Der Krankenpfleger und seine Karriere

Als Högel sich am Dienstag zu der Schweigeminute erhebt, blickt er zu Boden. Der Angeklagte wirkt gefasst, schaut geradeaus ins Leere oder zum Richter. Den Blick ins Publikum vermeidet er. Der heute 41-jährige Niels Högel wurde in Wilhelmshaven geboren, der Vater war Krankenpfleger, die Mutter Rechtsanwaltsgehilfin. „Ich bin behütet und beschützt aufgewachsen und habe keinerlei Gewalt erfahren“, sagt Högel. Schon früh habe er den Wunsch gehabt, Krankenpfleger zu werden. Er spricht mit norddeutschem Akzent.

Mit 17 Jahren begann Högel seine Ausbildung in Wilhelmshaven und arbeitete danach auf einer chirurgischen Station. Berufsbegleitend machte er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter. „Das hat mich immer schon interessiert“, begründet er das. Man habe ihm gesagt, dass er viel Potenzial habe, es mal mit Intensivmedizin versuchen solle. Högel wechselte an das Klinikum Oldenburg. Dort habe er zwischen drei Intensivstationen seinen Arbeitsplatz wählen dürfen, erzählt er vor Gericht. Högel wählte die kardiologische Intensivstation.

Die Ermittlungen der Polizei weisen darauf hin, dass Högel genau dort seine Mordserie begann. Und tatsächlich fiel in Oldenburg schnell auf, dass während Högels Schichten die Zahlen der Reanimationen und Todesfälle in die Höhe schnellten. Doch niemand ging zur Polizei, stattdessen wurde der Krankenpfleger weggelobt. Man legte ihm nahe, zu kündigen, und bescheinigte ihm in seinem Arbeitszeugnis „umsichtig, gewissenhaft und selbstständig“ gearbeitet zu haben. Auch in Delmenhorst gab es Gerede unter den KollegInnen, doch gemeldet wurde Högel erst, als er erwischt wurde.

Gaby Lübben hat in der Vergangenheit schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden erhoben. Sie sprach von einem „neun Jahre dauernden Ermittlungsboykott“. Die Rechtanwältin vertritt über 100 NebenklägerInnen. 126 Angehörige von möglichen Opfern haben sich dem Verfahren angeschlossen. Sie nehmen in den ersten Stuhlreihen des Gerichtssaals Platz. 17 AnwältInnen vertreten sie, 10 Opferbetreuer des Weißen Rings stehen ihnen zur Seite.

Gemordet, um die Langeweile zu bekämpfen?

Richtig ermittelt wurde erst, als endlich eine neue Staatsanwältin den Fall übernahm. Daniela Schiereck-Bohlmann verliest an diesem Dienstag die Anklageschrift. Sie wirft dem Angeklagten vor, Menschen getötet zu haben, um seine Fähigkeiten der Reanimation vor Kollegen und Vorgesetzten präsentieren zu können. Und um seine Langeweile zu bekämpfen.

Die folgende Stunde gilt den exakt einhundert Schicksalen von Menschen, die Niels Högel getötet haben soll, meist älteren Patienten. So wie Elisabeth S. die am 7. Februar 2000 verstorben ist. Högel soll ihr eine tödliche Dosis Xylocain gespritzt haben. Erwin T. bekam 2001 eine Überdosis Kalium. Magdalena B. starb 2004 an einer Gabe Gilurytmal. In allen diesen einhundert Fällen habe Niels Högel den Tod der Menschen zumindest billigend in Kauf genommen, so sagt es die Anklagevertreterin.

Die Politik hat auf die Taten von Niel Högel reagiert – allerdings reichlich spät im Jahr 2014. Die niedersächsische Landesregierung setzte damals den Sonderausschuss „Stärkung der Patientensicherheit und des Patientenschutzes“ ein. Auf seinem Abschlussbericht beruht die in der vergangenen Woche beschlossene Reform des niedersächsischen Krankenhausgesetzes.

Flächendeckend werden nun Stationsapotheker und eine Arzneimittelkommission eingesetzt. In regelmäßigen Konferenzen sollen Todesfälle und Krankheitsverläufe analysiert werden. Um die Hemmschwelle für die Äußerung von Verdachtsmomenten zu senken, wird ein Whistleblower-System eingeführt. Ein Fall ­Högel soll sich nicht mehr wiederholen.

Weitere Verfahren stehen bevor

Die betroffenen Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst wird der Fall noch weiter beschäftigen. Die Staatsanwaltschaft führt aktuell Ermittlungen gegen MitarbeiterInnen aus dem Klinikum Oldenburg. Drei Mitarbeiter aus Delmenhorst werden wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht stehen, sollte Högel im aktuellen Verfahren rechtskräftig verurteilt werden.

Der Prozess gegen Högel wird am 21. November fortgesetzt. 23 Zeuginnen werden bis zum Verfahrensende aussagen, darüber hinaus sind elf toxikologische und rechtsmedizinische Sachverständige geladen. Außerdem ist ein Sachverständiger geladen, der die Schuldfähigkeit des Angeklagten beurteilen soll, und ein psychologischer Sachverständiger, der sich zur Glaubwürdigkeit der Aussagen äußern wird.

Ab Juni nächsten Jahres könnten in der Weser-Ems-Halle wieder häufiger Flohmärkte gebucht werden.

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3 Kommentare

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  • Ich hätte eine Frage, an jemanden der im medizinischen Bereich arbeitet.

    Ich habe überhaupt keine Vorstellung davon, wie viele Menschen in einem Krankenhaus in lebensbedrohliche Situation geraten, reanimiert werden müssen oder sterben.

    Im Text steht, er wurde weggelobt, sind das einfach viel zu viele "Notfälle." Liegt das an der Station, hätte da auch bei den Kollegen der Alarm klingeln müssen oder nur mal ein Richtwert, wie viele lebensbedrohliche Notfälle hat ein normales deutsches Krankenhaus so am Tag?

    Vielen Dank.

    • @Sven Günther:

      Vorab: ich arbeite an einem kleineren Haus ohne kardiologische Intensivstation, das ist nur bedingt vergleichbar. In einer 12-Stunden-Schicht gibt es immer wieder keine einzige lebensbedrohliche Situation, meistens so 2-3, wobei meist keine Reanimation erforderlich wird (also z.B. reicht die Gabe von Medikamenten oder ein bestimmter Eingriff). Reanimationen sind vielleicht 1-2 am Tag im Durchschnitt. Die Mehrheit der Todesfälle sind Patienten_innen, wo vorab gegen eine Reanimation entschieden wurde (z.B. fortgeschrittene Krebserkrankung), das können (selten) auch mal 2-3 in einer Nacht sein.

    • 9G
      91488 (Profil gelöscht)
      @Sven Günther:

      Die Anzahl der Todesfälle in den Kliniken ist stark interschiedlich. Es sollte u.a. nach dem Versorgungsauftrag, der Grösse und der Widmung differenziert werden. Vergleichsweise viele Todesfälle fallen in Kliniken der Maximalversorgung ( u.a. die Universitätskliniken ) an. Dies ist vor allem durch die schwere der Erkrankungen sowie der grossen Patientenzahlen mit lebensbedrohlichen und infausten Erkrankungen erklärbar. Insgesamt legen die Kliniken keinen Wert auf die gesonderte Veröffentlichung von Todesfällen über einen bestimmten Zeitraum.



      Einen besonderen Status haben sogenannte "Sterbekliniken" im Rahmen der Palliativpflege und -medizin. Hier sterben bis auf wenige Ausnahmen fast alle Patienten. Ebenfalls eine Sonderstellung nehmen die Altenpflegeeinrichtungen ein. Hier sterben, wenn auch teilweise erst nach Jahren der Betreuung, der weit überwiegende Anteil der Bewohner.



      Am anderen Ende der Skala sind beispielsweise stationäre Entbindungseinrichtungen. Auch hier kommen Sterbefälle beispielsweise bei Neugeborenen und, aber extrem selten, bei den Müttern vor.

      Der Grund ihrer Frage bezieht sich wohl auf die Pflegekraft die derzeit vor Gericht steht und wg. dem gleichen Vergehen schon verurteilt wurde.



      Die Menge der dieser Person fraglich zugeordneten Sterbefälle ist exorbitant kann aber einen kleinen Einblick in die deutsche Praxis der ärztlich Dominierten Gesundheitsversorgung vermitteln.



      Es ist insgesamt beispielsweise sehr schwierig einem Arzt und oder dessen Gehilfen ( damit sind auch Pflegekräfte gemeint ) einen Fehler nachzuweisen. Es scheint manigfaltige interne Verschleierungsmechanismen zu geben die der Schuldabwehr dienen.



      Es ist für mich fast unvorstellbar dass in einem teambasierten Beruf wie der stationären Pflege und der stat. Medizin niemand!!!! mibekommen haben sollte dass hier extreme Auffälligkeiten bei Todesfällen und einer bestimmten Personalkorrelation bestehen.