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Gummizelle beschäftigt Justiz

Die Staatsanwaltschaft Verden ermittelt gegen den ehemaligen Chefarzt der Rotenburger Kinder- und Jugendpsychiatrie, weil er minderjährige PatientInnen weggesperrt haben soll

Soll eigentlich Mittel der Therapie sein – nicht der Strafe: Time-Out-Raum Foto: Friso Gentsch dpa

Von Marthe Ruddat

Der Raum war nur mit einer Matratze ausgestattet und für die Notdurft soll manchmal bloß ein Eimer bereit gestanden haben. Was als „Time-Out-Raum“ der Krisenintervention dienen sollte, wurde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) des Agaplesion Diakonieklinikums in Rotenburg/Wümme genutzt, um Kinder und Jugendliche einzuschüchtern und sie zu bestrafen – so zumindest berichten es ehemalige PatientInnen und deren Eltern.

Mehrere Kinder und Jugendliche sollen in dem Raum stundenlang, manchmal über Tage, eingesperrt gewesen sein. Der ehemalige Chefarzt der Klinik wurde deshalb bereits entlassen. Nun ermittelt auch die Staatsanwaltschaft Verden gegen den Mediziner, wie ein Sprecher der taz bestätigte.

Der Anfangsverdacht laute Freiheitsberaubung, heißt es aus der Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen gehen demnach zurück auf Presseberichte. Wie lange sie noch andauern, könne man nicht sagen.

Ins Rollen gekommen war der Fall durch eine Scheeßeler Kindertherapeutin. „Ich habe schon länger ein schlechtes Gefühl dabei gehabt, Patienten dort hinzuschicken“, sagt die Therapeutin Marlene Heuer-Patschull. „Aber wie schlimm es wirklich war, das wusste ich nicht.“ Nachdem ihr zwei PatientInnen, die zuvor in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt worden waren, von ihren Erfahrungen berichteten und auch anderen KollegInnen die Behandlungsmethoden immer wieder thematisierten, schrieb Heuer-Patschull einen Brief an die Diakonieklinik.

Dieser blieb unbeantwortet und Heuer-Patschull wandte sich an die Presse. Mehrere niedergelassene Kinder- und Jugendtherapeuten und -psychiater aus der Region berichteten daraufhin von PatientInnen, die Stunden oder Tage in dem Time-Out-Raum verbringen mussten. Eigentlich sieht das psychiatrische Konzept vor, dass PatientInnen pro Lebensjahr nicht länger als eine Minute dort bleiben dürfen. Bei einem Zehnjährigen wären das zehn Minuten, bei einem 15-Jährigen 15 Minuten.

Auch KollegInnen aus der Klinik erzählten laut Medienberichten vom rigiden Führungsstil des Chefarztes und einer Mauer des Schweigens – trotz bekannter Missstände. Die Klinikleitung wachte schließlich auf und stellte den Arzt zunächst frei, im Juli folgte die fristlose Kündigung.

Gegen seinen Rauswurf geht der Arzt gerichtlich vor. Eine Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht ist bereits gescheitert. Der Prozess wird erst im Januar fortgesetzt, weil die Klinik zur Begründung der Kündigung ein Gutachten in Auftrag gegeben hat. Der Kreiszeitung sagte Unternehmenssprecher Matthias Richter, „dass viele der in der Presse gegen den ehemaligen Chefarzt der KJP erhobenen Vorwürfe durch die Rückmeldungen Betroffener und vor allem durch das nun vorliegende Gutachten bestätigt werden“.

Gegenüber der taz äußerte sich die Klinik bis Redaktionsschluss nicht, kündigte jedoch eine Rückmeldung für Mittwoch an. Bis dahin bleiben die Fragen nach dem konkreten Inhalt der internen Aufarbeitung und der im Sommer angekündigten Qualitätskontrolle unbeantwortet. Eine Anlaufstelle bei der Mediatorin Sabine Kramer, die die Klinik eingerichtet hat, steht Betroffenen auch weiter zur Verfügung. Die Stelle des Chefarztes der KJP ist mittlerweile neu ausgeschrieben. Darin heißt es, Agaplesion suche jemanden für die „Neuausrichtung und Weiterentwicklung“ der Abteilung.

Mindestens bis ein neuer Chefarzt gefunden wurde, ruht die Zusammenarbeit des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) mit der Rotenburger Klinik. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe hatte das UKE den Status der KJP als Lehrkrankenhaus ausgesetzt. „Nach erfolgter Neubesetzung der Leitungsposition wird über eine Wiederaufnahme von Seiten des UKE entschieden“, sagt eine Sprecherin des Klinikums.

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