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Rätseln um hohe Säuglingssterblichkeit

In Neukölln sterben doppelt so viele Babys vor Ende ihres ersten Lebensjahres wie im Berliner Durchschnitt. Der Bezirk sucht nun nach Gründen

Von Uta Schleiermacher

Es ist eine alarmierende Zahl, und bisher kann niemand sie wirklich erklären. In Neukölln sterben deutlich mehr Säuglinge innerhalb ihres ersten Lebensjahres als in den anderen Bezirken – fast doppelt so viele wie im Berliner Durchschnitt. Das zeigt der ausführliche Gesundheitsbericht des Bezirks. Von 1.000 Babys überleben in Neukölln durchschnittlich 5,3 ihr erstes Lebensjahr nicht. Etwa die Hälfte davon stirbt bereits während der ersten Lebenswoche. Der Durchschnitt für ganz Berlin ist 3,1.

Besonders drastisch ist der Vergleich zum Bezirk Steglitz-Zehlendorf, in dem durchschnittlich 1,4 Kinder das erste Lebensjahr nicht erreichen. Und während bundes- und landesweit die Fälle weniger werden, steigt die Säuglingssterblichkeit in Neukölln sogar. Auch die Zahl der Totgeburten nimmt zu. Beide Tendenzen lassen sich schon seit ein paar Jahren beobachten. Die Zahlen beziehen sich auf die jeweils in den Bezirken gemeldeten Kinder.

Im Bezirk macht man sich nun auf die Suche nach den Ursachen. Eine Mitarbeiterin des Stadtrats für Gesundheit, Falko Liecke (CDU), sichtet zurzeit die entsprechenden Leichenschauscheine noch mal manuell. Liecke erhofft sich daraus Erkenntnisse über die Todesursachen. „Vielleicht kommt dabei auch heraus, dass die Zahlen gar nicht stimmen und dass der Fehler in der Statistik liegt“, sagt er.

Auch die Bezirksverordnetenversammlung diskutiert seit Monaten über das Thema, das auch für die heutige Sitzung am Mittwoch wieder auf der Tagesordnung steht. Von Antworten sind alle aber noch weit entfernt. Denn dass Armut krank macht, ist zwar erwiesen. Aber allein die soziale Lage in Neukölln kann die hohen Fallzahlen nicht erklären. Denn sie unterscheiden sich nicht nur von den Zahlen in reicheren Bezirken, sondern auch vom Bezirk Mitte, der eine ähnliche Sozialstruktur wie Neukölln hat. Auch, dass es nur sehr wenige Frauen­ärzt*innen in Neukölln gibt, reicht als alleinige Erklärung nicht aus.

„Es gibt anscheinend eine Gruppe, die wir nicht erreichen, und das schon seit Jahren“, sagt Ursula Künning, die als Bezirksverordnete für die Grünen auch im Gesundheitsausschuss sitzt. Das Problem müsse unbedingt weiter erforscht werden, gleichzeitig müssten präventive Maßnahmen ausgebaut werden. „Wir müssen möglichst schnell herausfinden, ob es beispielsweise an mangelnder Gesundheitsaufklärung liegt, an Erkrankungen der Mütter, an der Lebensführung, wenn Mütter rauchen oder Alkohol trinken, oder ob es die mangelnde Gesundheitsversorgung im Bezirk ist“, sagt Künning.

Dass bisher niemand eine Erklärung für die hohe Säuglingssterblichkeit in Neukölln hat, bedeutet nicht, dass sich Verantwortliche mit Spekulationen zurückhalten. Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) äußerte im Sommer die Vermutung, die Säuglingssterblichkeit könnte an Verwandtenehen liegen. Der Unterton war deutlich: viele Migranten bedeute viele Ehen zwischen Cousins und Cousinen, und aus diesen Verbindungen gingen Kinder mit schweren Behinderungen hervor. Die Bezirksverordnete Ursula Künning hält diese These jedoch für schädlich. „Es muss gar nichts mit irgendeinem Migrationshintergrund zu tun haben. Wir wissen schlicht und einfach nicht, woran es liegt“, sagt sie, „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Vorurteile befeuern, die sowieso schon bestehen.“

Säuglingssterblichkeit in Berlin

Begriff Wenn Babys innerhalb ihres ersten Lebensjahres sterben, spricht man von Säuglingssterblichkeit. Eine hohe Säuglingssterblichkeit gilt als Indikator für eine mangelhafte gesundheitlich und geburtshilfliche Versorgung von Müttern und Säuglingen. Fast die Hälfte der betroffenen Babys sterben bereits innerhalb der ersten Lebenswoche. In vielen Fällen sind die Babys bei der Geburt sehr leicht, bei fast einem Drittel ist die Todesursache extreme Unreife, oft bedingt durch kurze Schwangerschaft.

Daten Berlinweit sterben im Schnitt 3,1 Babys vor Ende ihres ersten Lebensjahres. Die höchste Rate hat Neukölln mit im Schnitt 5,3, gefolgt von Reinickendorf (4,4), Spandau (4,0) und Mitte (3,4). Steglitz-Zehlendorf und Friedrichshain-Kreuzberg haben mit 1,4 bzw. 1,9 die niedrigsten Raten. Für Berlin liegen zurzeit die Zahlen bis einschließlich 2016 vor. (usch)

Inzwischen ist Liecke zurückgerudert, doch so ganz abrücken möchte er von dieser Theorie nicht. „Es eine mögliche Erklärung“, sagt er und beruft sich auf eine Studie, nach der das Risiko für genetische Defekte unter Verwandten achtmal höher sei. „In welcher Größenordnung das passiert und welche Auswirkungen das hat, kann ich nicht sagen.“

Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sich das jemals herausfinden lässt. Denn weder ist ein Zusammenhang zwischen Verwandtenehen und Säuglingssterblichkeit wissenschaftlich erwiesen, noch der zwischen Migranten und Verwandtenehen. Es gibt auch überhaupt keine statistischen Zahlen darüber, wie viele Menschen in Neukölln mit einem näheren Verwandten verheiratet sind. Und die absoluten Fallzahlen der toten Säuglinge sind schließlich so gering, dass sich solch ein Zusammenhang statistisch auch nicht nachweisen ließe.

Liecke will dem trotzdem weiter nach­gehen – als einer möglichen Erklärung, warum die Zahlen in Neukölln anders sind. „Es kann ein statistischer Fehler sein, es kann an der ärztlichen Versorgung liegen, an Armut und Bildungsferne, an mangelnder Schwangeren-Beratung – oder eben an Verwandtenehen“, sagt er. Natürlich könne ein System immer verbessert werden, doch in Neukölln seien auch schon viele Angebote für junge Eltern umgesetzt. Vorsorgeangebote seien allerdings noch ausbaufähig. „Mein Eindruck ist, dass viele erst zum Frauenarzt gehen, wenn sie akute Beschwerden haben, anstatt regelmäßig zu Vorsorge-Untersuchungen zu gehen“ sagt er. Bis aus solchen Mutmaßungen und Eindrücken Gewissheit wird, wird es allerdings noch eine ganze Weile dauern.

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