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Türen in das Denkgebäude

Der Flaneur und die Zeichnerin: Die Berliner Künstlerin Patrizia Bach beschäftigt sich mit der visuellen Ästhetik in den Texten von Walter Benjamin. Daraus ist ein Buch entstanden

von Ralph Trommer

Ähnlichkeit der Passagen mit den gedeckten Hallen, in denen man Radeln lernte. In diesen Hallen nahm das Weib seine verführerischste Gestalt an: als Radlerin.“ Das notierte der gebürtige Charlottenburger Walter Benjamin (1892-1940). Der legendäre Kulturphilosoph deutsch-jüdischer Herkunft, Literaturkritiker und Schriftsteller, hat es der Nachwelt nicht leicht gemacht. Ein umfangreiches Konvolut aus rund 4.000 Zitaten, das Benjamin systematisch in der Pariser Nationalbibliothek zusammentrug, abschrieb und kommentierte, ging als rätselhaftes „Passagenwerk“ in die Literatur- und Philosophiegeschichte ein.

Darin versuchte er das im 19. Jahrhundert aufgekommene Phänomen der Ladenpassagen – Vorläufer heutiger Shoppingmalls – in all ihren scheinbaren Nebensächlichkeiten einzufangen, um eine „Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ als Kennzeichen der Moderne zu erzählen. Vielleicht hatte er aber auch andere Absichten. Zwischen 1927 und 1940 entstanden blieb das Projekt Passagenwerk durch Benjamins Tod unvollendet – er nahm sich auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Grenzort Portbou das Leben, als er fürchten musste, ausgeliefert zu werden.

Die 1983 in München geborene, in Berlin und Istanbul lebende Zeichnerin Patrizia Bach sichtete 2012 das erste Mal die über tausend Seiten umfassenden Passagen-Manuskripte im Berliner Walter Benjamin-Archiv. Deren „Einzigartigkeit ließ mich nicht mehr los“, beteuert sie im Vorwort des nun erschienenen Buches „Passagen-Arbeit, Zeichnungen zu Walter Benjamin“, das sich dem fragmentarisch-widerspenstigem Werk auf sehr systematische Weise nähert und es auf überraschende Weise updatet.

Bach begann eine „bildliche Recherche“. Schon 2015 richtete die Zeichnerin, die Freie Kunst und Visuelle Kommunikation studiert hat, eine Website ein, die das Passagenwerk ins digitale Medium übertrug und dadurch zahlreiche Verlinkungen möglich machte (www.benjamin-passagen.de). Insbesondere wurde die bislang weitgehend ignorierte grafische Qualität von Benjamins Text, unter anderem seine Codierung von Textstellen anhand zahlreicher einfacher farbiger Signets – etwa ein rotumrandetes Quadrat, das „Pariser Antike“ bedeutet; oder ein schwarz ausgefüllter Kreis bedeutet „ennui“ – von Patrizia Bach aufgegriffen und für die Website ins Digitale übertragen.

Sie nähert sich dem fragmentarisch-widerspenstigem Werk sehr systematisch an

Verlinkung via Farbcode

Erst 2008 wurden die Originalsignets erstmals in der Akademie der Künste in Berlin veröffentlicht, während die bisherigen Ausgaben des Passagenwerks stets auf sie verzichteten, auch, weil ihre Bedeutung lange unklar blieb. Patrizia Bach macht so Benjamins selbst entwickeltes Zeichen-System sichtbar, das auf moderne Weise vielfältige Querverweise und Verlinkungen zwischen unterschiedlichen Zitaten schafft.

Für die Künstlerin öffnete sich während der Beschäftigung mit dem Passagenwerk ein Assoziationsraum, der sie zu einer Serie von eigenen Zeichnungen inspirierte. Zunächst begab sie sich auf die Spuren des Flaneurs Walter Benjamin durch Paris, indem sie jedem einzelnen seiner Spaziergänge und der von ihm erwähnten Orte nachspürte und daraufhin per Hand einfache Karten anfertigte, die dem Buch als „Paris-Stadtplan“ beiliegen.

In Verbindung mit diesen Karten stehen Patrizia Bachs feine Zeichnungen, die sich von einer Auswahl aus Benjamins Text-Konvolut zu verschiedensten Phänomenen der von ihm gewählten „verlorenen Zeit“ inspirieren ließen. So scheint auf jedem ihrer Zeichenblätter eine weitere grafische Besonderheit der Handschriften durch. Benjamin beschrieb jeweils nur ein Viertel jeder querformatigen Seite, presste seine Zitate und Notate in kleiner Schrift in eine schlanke Kolumne. Indem Bach diese visuelle Struktur adaptiert, gibt sie ihrer Serie von Zeichnungen einen Rhythmus.

Manchen heute im Pariser Stadtbild verschwundenen Motiven, auf die sich einige Zitate beziehen, setzt Bach eigene Entdeckungen entgegen: anstelle der Reinigungsanstalt in der Passage Brady werden Werbebilder im Schaufenster eines heute dort ansässigen afrikanischen Frisiersalons nachgezeichnet, die eigentümliche Muster auf der Kopfhaut einiger Modelle zeigen. Der Krinoline (einem damals üblichen steifen Unterrock) widmet Bach mehrere Blätter: Ähnlich einer zoomenden Kamera nähert sie sich dem Gegenstand an, bis sie in Muster- und Gewebestrukturen eintaucht.

In den allein mit Bleistift und gezielt monochrom eingesetzten Buntstiften geschaffenen Zeichnungen lassen sich Eindrücke von Metamorphosen und surreale Bildeinfälle entdecken, die auch unabhängig von den Ausgangstexten reizvolle ästhetische Wirkung entfalten. Neben die Bilder setzt die Zeichnerin Verlinkungen, die zu Benjamins ebenfalls im Buch enthaltenen Texten, zum Paris-Stadtplan oder zu anderen Bildern führen: die Künstlerin wie auch der Leser-Betrachter übernehmen so Benjamins Quer-Denkweise.

Wer sich auf die komplexe, aber wohldurchdachte Struktur der „Passagen-Arbeit“ einlässt und die ebenfalls enthaltenen Benjamin-Zitate mit den künstlerischen Interpretationen Bachs vergleicht, wird damit belohnt, einen tieferen Einblick in Benjamins Denkgebäude bekommen zu haben. Patrizia Bachs Buch ist eine ungewöhnliche Melange aus künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit. Ihr Verdienst ist es, dass nun auch eine visuelle, subtil ins Heute übertragene Dimension von Walter Benjamins Text-Steinbruch entdeckt werden kann.

Patrizia Bach, Passagen-Arbeit. Mit Texten von Kathrin Busch und Knut Ebeling. Revolver Publishing, englisch/deutsch. 264 Seiten, 48 €

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