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Niemand hinderte sie

Das akademische Milieu hält sich gern für aufgeklärte Avantgarde. Beim #MeToo-Fall um Avital Ronell deutet allerdings alles auf privilegiengestützte Machtvergessenheit

Von Ekkehard Knörer

Die Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell ist ein akademischer Star: In der größeren Öffentlichkeit völlig unbekannt, in den engeren Zirkeln der Literaturtheorie ein großer Name und in den engsten Kreisen ihrer Jüngerinnen und Jünger ein Gegenstand fast bedingungsloser Verehrung. Ihr bekanntestes Werk ist wohl das 1989 erschienene „The Tele­phone Book“. Sprachlich und methodisch ist es wie auch ihre weiteren Bücher fast schon eine Karikatur der damals auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit stehenden Dekonstruktion, die ihre Bedeutung so genauen wie kühnen Lektüren und ihre Hipness nicht zuletzt der beträchtlichen Esoterik ihrer Denk- und Schreibverfahren verdankte.

Ronell war eine Schülerin ­Jacques Derridas und ist seit fast zwanzig Jahren Professorin an der New York University, in einem der angesehensten Germanistik-Departments der USA. Sie hätte, jetzt Mitte sechzig, einem bestens abgesicherten Ausklang ihres akademischen Lebens entgegengesehen, wäre sie nicht ins Zentrum eines Skandals geraten, der weit über die bislang engen Kreise ihres Wirkens hinausreicht.

Ronell soll, so lautet der Vorwurf, zwischen 2012 und 2015 einen Mann, den sie als Doktoranden betreute, sexuell bedrängt, verfolgt und belästigt haben. Dieser erhob eine universitätsinterne Klage nach dem sogenannten Title-IX-Verfahren, das, weil das der übliche Fall ist, in aller Regel gegen männliche Professoren, die Studentinnen belästigen, angestrengt wird. Ungewohnt ist hier die Verteilung der Rollen, die dadurch komplizierter wird, dass Ronell sich als lesbisch, der Student sich als schwul identifiziert. Title IX ist ein parajuristisches Instrument, zu dessen Prinzipien es gehört, dass möglichst nichts an die universitätsexterne Öffentlichkeit dringt. Das soll dem Opferschutz dienen, kommt aber auch den Universitäten oft mehr als gelegen, die gern den Mantel des Schweigens über entsprechende Vorwürfe breiten.

Das Verfahren gegen Ronell verlief zunächst ganz wie auch sonst. Die Universität ermittelte elf Monate lang, erkannte am Ende einen Teil der Vorwürfe an und verhängte ein Jahr Lehrpause ohne Bezahlung als Strafe, mit recht strengen Auflagen für die zukünftige Doktorand*innen-Betreuung. Dann aber gelangte per Leak ein Unterstützerbrief an die Öffentlichkeit, der zuvor unter Freunden und Fans von Ronell recht breit zirkulierte. Er war an die Universität gerichtet und las sich als unverfrorener Appell, Ronell deshalb zu verschonen, weil sie scharfen Witz besitze und ein von ihren Stu­den­t*in­nen verehrter und von Berühmtheiten des Betriebs unterstützter Star sei. Unterzeichnet hatten unter anderen die Queer-Theorie-Ikone Judith Butler, die Subalternen-Theoretikerin Gayatri Spivak und die lose Kanone Slavoj Žižek, aber auch deutsche Vertreter*innen der Dekonstruktion und angrenzender Theoriezirkel, von Barbara Vinken bis Bernhard Siegert. Ju­dith Butler hat sich inzwischen von diesem so schändlichen wie schädlichen Brief distanziert, der Rest präferiert Ausweichmanöver und Schweigen.

In der Kombination aus Sex, Anmaßung und Theorie-Personal traf die Geschichte einen Nerv: #MeToo in der Queer-Variante, in der Rolle der Angeklagten noch dazu eine Vertreterin eines sich als links und emanzipiert und feministisch begreifenden akademischen Milieus. Insbesondere der Brief der Unterstützer war ein gefundenes Fressen für die konservativen Gegner der ohnehin unter Druck stehenden Gender- und Literaturtheorie, was wiederum auf fatale Weise dazu führte, dass die Unterstützer*innen den Kreis um Ronell noch fester schlossen.

Leider nur deutet nichts darauf hin, dass Ronell unschuldig ist. Der Student hat inzwischen eine offizielle Anklageschrift verfasst, die atemberaubende Einblicke in das Gebaren einer Professorin erlaubt, das die Grenzen des Erträglichen weit überschreitet. Sie hat von ihrem Doktoranden Treue und Gefolgschaft mit Haut und Haaren gefordert, ihn rund um die Uhr mit liebestoll klingenden Mails verfolgt, die sie nun als queer kodierte und darum nicht wörtlich zu nehmende Quasi-Lyrik verteidigt. Der Doktorand sieht das freilich ganz anders. Und wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was er schreibt, wird das ein für die Universität sehr teurer Prozess, der ihrem Ansehen immensen Schaden zufügen muss.

Der wahre Skandal dabei: Die Unterstützer*innen mussten eigentlich wissen, wie Avital Ronell tickt. Wer sich in den vergangenen zwanzig Jahren auch nur in der Nähe des German Department der NYU bewegt hat, konnte von den mehr als beunruhigenden Zuständen dort wissen. Wie eine Sektenführerin hat Ronell die Studierenden in Gefolgschaft und Gegner sortiert, hat gemeinsam mit einem anderen Professor Studierende, die nicht auf Linie waren, und auch die Kollegen terrorisiert. Inzwischen gibt es weitere haarsträubende Erlebnisberichte von Zeug*innen vor Ort, in denen es nicht um sexuelle Belästigung, aber um eine Form narzisstisch grundierten Machtmissbrauchs geht, die längst zur Suspendierung Ronells hätte führen müssen.

Der wahre Skandal: Avital Ronells Unterstützer*innen mussten eigentlich wissen, wie sie tickt

Das Schockierende und Desillusionierende ist am Ende weniger die Individualpathologie von Ronell. Solche Fälle gibt es und wird es immer geben. Desillusionierend ist, wie blind sich die gewieften Theoretiker*innen der Macht für einen sehr konkreten und vor ihrer Nase befindlichen Fall von Machtmissbrauch zeigten, wie arrogant sie sich gegen die Opfer solidarisierten, wie uneinsichtig die meisten von ihnen nach wie vor sind und wie sie die Schuld überall und vor allem bei den zugegeben oft bösartigen und törichten Gegnern der Dekonstruktion, nur nicht bei ihrer eigenen privilegiengestützten Machtvergessenheit suchen.

Schockierend ist aber vor allem, dass die fortgesetzten und für den, der sehen wollte, sogar lustvoll öffentlich demonstrierten Übergriffigkeiten Ronells über Jahrzehnte wider alle Belege als exzentrisch verharmlost und damit systematisch geschützt worden sind. So ungewöhnlich die Umstände auf den ersten Blick sind: Der Fall Ronell ist ein gar nicht besonders komplizierter, fast exemplarischer Fall von #MeToo. Es geht im Kern nicht um Sex, sondern um den für die Täter*innen oft geradezu als ihr selbstverständliches Recht verbuchten Missbrauch von Macht, der dann auch bis zu sexueller Belästigung und Schlimmerem führt. Eine*r nimmt sich, was er (hier ausnahmsweise einmal: sie) kriegen kann, weil ihn niemand daran hindert.

Dass niemand Ronell am Nehmen hindern konnte oder wollte, sollte der eigentliche Anlass zum Nachdenken sein. Das akademische Milieu hält sich gern für die aufgeklärte Avantgarde der Gesellschaft. In manchen Hinsichten ist das Gegenteil wahr, gerade an den privilegiertesten Stellen. Egalitär und demokratisch gesinnt mögen viele Einzelne sein. Die durch und durch hierarchischen Strukturen dagegen leisten Willkür, Sexismus, Arroganz und Machtmissbrauch sehr viel mehr, als es in anderen Bereichen der Gesellschaft üblich ist, Vorschub.

Das Verhältnis von Dok­to­ran­d*in und Betreuer*in ist da nur ein besonders deutliches Beispiel: eine Beziehung der unter bestimmten Bedingungen fast absoluten Macht­asym­metrie, die von manchen mit Begriffen des „pädagogischen Eros“ verklärt wird, aber wie jede systematische Macht­asym­metrie dringend externer Kontrollinstanzen, unabhängiger Ansprechpartnerinnen und strikter Verhaltensregeln bedarf. Das gilt, auch wenn die Verhältnisse im Einzelnen etwas andere sind, natürlich nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland, wo demokratische und egalitäre Momente an den Universitäten seit Jahren systematisch zurückgedrängt werden. Was aus dem Fall Ronell an Allgemeingültigem folgen kann, muss an diesem Punkt ansetzen. Den Rest kann man dem Gericht überlassen.

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